In Österreich wird zu viel gemeckert – ein Interview mit der Lombardei lehrt uns mehr Demut

Am Beispiel der Lombardei und dem Interview mit Dr. Luigi Gelmi sehen wir, in Österreich wäre Demut mehr als angebracht. Wir sollten nicht so viele Gedanken daran verschwenden, dass wir womöglich einen Frühling, gar einen Sommer oder im schlimmsten Fall ein Jahr verloren haben. Denn durch die Vorsicht, die wir als Kollektiv momentan großteils an den Tag legen, verhindern wir, dass es für manche – genauer die Risikogruppe – nicht vielleicht gar ihr letztes Jahr war und es so endet, wie in anderen Teilen dieser Erde.
Werte wie Solidarität und Zusammenhalt wurden in den letzten Jahren natürlich durch die Leistungsgesellschaft und dem daraus resultierenden Konkurrenzkampf noch mehr in den Hintergrund gedrängt. Zudem schwingt auch immer die Neidgesellschaft mit – durch den Kapitalismus an seine Spitzen getrieben. Doch momentan sind wir mit einer Situation konfrontiert, die uns dazu zwingt – auch gesetzlich -, solidarisch mit unseren gefährdeten Mitbürgern zu sein.
Da kommt einer aus einem anderen Bundesland hierher, fotografiert die leere Innenstadt, postet das Foto und schreibet: den Bürgemeister wird es freuen, dass sich die Menschen an #StayHome halten.
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— Verena (@VerenaVoegeler) April 10, 2020
Der erste freiwillige Aufschrei der Solidarität verstummt jedoch langsam wieder und weicht dem erneuten Erwachen des egoistischen Individualismus. Die steigende Anzahl der Anzeigen zeigt zwei Dinge deutlich: Die Leute agieren wieder mehr in ihrem eigenen Interesse und versuchen, ihrer psychischen Gesundheit Gutes zu tun und somit ihnen selbst den Vorrang vor dem Schutz der Risikogruppen zu geben – ist verständlich, doch sollten wir trotzdem weitestgehend weiter Verzicht üben, sonst war alles bisherige ganz schnell umsonst.
Andererseits aber – und das darf hier niemals außer Acht gelassen werden – wird seitens der Polizei eine vollkommen unverhältnismäßige Beurteilung der Einzelfälle an den Tag gelegt, was zu einer steigenden Zahl an Anzeigen führt. Das Nachrichtenmagazin Profil schrieb hierzu sehr treffend: „Allerdings scheint neuerdings alles verboten zu sein, was nicht explizit erlaubt wurde.“ Dies unterstützt natürlich das Unverständnis in der Bevölkerung für die übertrieben durchgesetzten Maßnahmen.
Ein Blick über den Tellerand
Seien es nun Italien, Spanien oder die USA – alle hatten mit einem rapiden und „unerwarteten“ Anstieg zu kämpfen. In den Flüchtlingslagern von Griechenland sind die Menschen größtenteils sogar auf sich alleine gestellt – hier kommt Hilfe meist nur durch NGOs, die von privaten Spenden abhängig sind. In unserem System werden die meisten Menschen aufgefangen – nicht jeder, das ist klar -, wodurch bei uns vielleicht auch deshalb zum Teil leichtfertiger mit dem Thema umgegangen wird.
Hier hat sich Bonfiglio Fashion etwas Wunderbares überlegt, um den Menschen zu helfen, die sich nicht selbst helfen können – nämlich Obdachlosen, unbegleitete Minderjährigen und Flüchtlingen. 10 € vom Erlös des T- Shirts „Distant But United“, das auch an diese surreale Zeit erinnern soll – ein modisches Mahnmal sozusagen -, geht an die Organisation Ärzte ohne Grenzen. Auf unseren Social Media Kanälen – Instagram und Facebook – verlosen wir hierzu aktuell ein exklusives Shirt der Modelinie.
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Hierzulande beschwert man sich schon über diverse Maßnahmen der Regierung – die natürlich zum Teil auch über das Ziel hinausschießen mögen -, während anderenorts die Menschen das durch Corona erzeugte Chaos zahlreich mit dem Tod bezahlen. Das Problem ist, viele blicken in Zeiten der Quarantäne noch weniger über ihren Tellerrand – oder ihren Wohnungsgrundriss in diesem Fall. Die durch Medien vertriebenen Bilder von Angst und Schrecken werden schnell verdrängt und durch die Gesellschaft geht ein „ist ja alles eh nicht so schlimm.“
Interview und die Stadt Bergamo während des Coronavirus
Vor ein paar Tagen durfte ich mich mit einem Arzt aus Bergamo über die Lage und den letzten Monat, wie auch die verpassten Chancen zur Eindämmung des Coronavirus sprechen. Dr. Luigi Gelmi ist zwar Zahnarzt, doch wollte er nicht einfach untätig herumsitzen. „Ich habe viele Freunde, die dort (Anm. d. Red.: Krankenhaus Papa Giovanni XXIII.) arbeiten, wie auch meine Schwägerin, die Psychologin ist. Ich fragte sie, ob ich irgendwie nützlich sein könnte, aber sie sagten mir, dass sie nur Spezialisten für Pneumologie, Infektionskrankheiten und Anästhesie suchten.“
Er gab jedoch nicht auf und schaffte es zumindest in der Aufklärungsarbeit tätig zu werden – diese betreibt er über die Grenzen Italiens hinaus. Zudem arbeitet er ehrenamtlich in einem für die Coronakrise eingerichteten Callcenter, das Menschen der Region telefonisch betreut und informiert, weshalb er auch einen sehr genauen Einblick in die Lage der Region hat.
Mal als Referenz die absoluten Sterbefälle von Bergamo seit 2010. pic.twitter.com/w5s2TOMDgI
— Hendrik Eilers (@hendrikeilers) April 9, 2020
Bergamo. Eine wunderschöne, kleine Stadt im Zentrum der Lombardei, nordöstlich von Mailand. Die norditalienische Region geriet vor allem wegen des Coronavirus und dessen schwerwiegenden Folgen international in die Schlagzeilen – das Wuhan Europas, wie es zum Teil sehr treffend betitelt wird. Rekordzahlen bei Infektionen und Toten; Bilder von Gesundheitspersonal, das vollkommen am Ende seiner Kräfte ist; Lastwägen, die Massen an Särgen transportieren – ein März, der als wohl schwärzester Monat in die Geschichte der Industrieregion eingehen wird.
„Wir hatten viele Tote, auch weil wir (…) viele alte Leute hatten. Das Krematorium auf unserem Friedhof reichte nicht aus, so dass sie die Särge in andere Städte bringen mussten. Dieses Video mit den Militärlastwagen, die diese Opfer transportierten, schockierte die Welt.“
Warum hat man nicht früher reagiert? Oder konnte man nicht vorhersehen, dass das Coronavirus in der Lombardei einen derartigen Ausnahmezustand hervorruft?
„Die meisten Leute dachten, Covid-19 sei nichts anderes als eine Grippe, also war man davon überzeugt, dass es nur die alten Leute zu schützen gilt und sonst lief business as usual. Leider waren die Zahlen, die China der Welt zeigte, völlig falsch.“
Anm. d. Red.: lt. offiziellen Zahlen des Robert Koch Instituts liegen die Infektionen in China – das Land mit der höchsten Einwohnerzahl – aktuell bei „nur“ 82.000, was als sehr unwahrscheinlich zu werten ist, betrachtet man die Zahl der USA, wo sich das Virus erst viel später auszubreiten begann – 466.000 Infizierte.
„So ein Chaos hätte zu Beginn niemand vorhersehen können. Rückblickend weiß jeder, dass die Quarantäne und Ausgangsbestimmungen schon viel früher nötig gewesen wären.“
Die Lombardei wurde nicht nur unter Quarantäne gestellt, sondern bekam auch die gesamte Wucht der Epidemie ab, weil zu spät reagiert wurde. Hierzulande setzte die Regierung schnelle und zum Teil auch radikale Maßnahmen, die womöglich schlimmeres verhindert haben. Dennoch beschweren sich die Leute ungemein über die Einschränkungen.
Weshalb trifft es aber gerade die Lombardei so hart?
„Die Lombardei pflegt sehr intensive geschäftliche Beziehungen mit China, was die Verbreitung des Virus natürlich begünstigt hatte. Sie ist die am meisten industrialisierte Region und der am dichtesten besiedelte Teil Italiens. Hier leben mehr als 10 Millionen Menschen. Über 50.000 der 130.000 Fälle Italiens wurden hier verzeichnet.“
Italienische Medien geben der sogenannten „Pronto Moda“ (Anm. d. Red.: „schnelle Mode“) die Schuld für die verheerenden Ausmaße in der norditalienischen Region. Damit ist die Produktion von vermeintlich italienischen Produkten gemeint, die in Wirklichkeit von Chinesen – unter chinesischen Bedingungen – hergestellt wird.
Die Zahlen des Tages: Ein heftiger Anstieg um 5.600 Fälle (+5,2%) und erstmals mehr als 300 Corona-Tote an einem Tag. Details im THREAD! (1/7) #CoronaVirus #CoronaChart pic.twitter.com/MNDSqFD7Yy
— Herr Naumann (@HerrNaumann) April 9, 2020
Was ist Ihrer Meinung nach mehr für diesen Zusammenbruch verantwortlich? Sind es der Abbau und die Privatisierung des Gesundheitssystems oder das Virus selbst und der Mangel an Wissen darüber?
„Ich denke alle drei. In den letzten zehn Jahren wurden die Mittel für das Gesundheitswesen um 37 Milliarden pro Jahr (!) gekürzt.“
Und das Virus betreffend, was macht es so gefährlich?
„Das Virus hat eine asymptomatische Zeitspanne von zwei Wochen oder mehr, in der Sie vollkommen gesund sind. Bei 50-70% ist es völlig asymptomatisch.Viele Menschen haben unbemerkt das Virus verbreitet, das außerdem relativ leicht übertragen wird.“
Und bezüglich der Symptome?
„Es gibt eine Anfangsphase mit weniger als 38°C Fieber, Kopfschmerzen, nicht übermäßigem Husten, diffusen Schmerzen, leichter Rhinitis, Bindehautentzündung und Anosmie (Anm. d. Red.: Verlust des Geruchssinns).
Wenn dann das unspezifische Immunsystem das Virus eliminiert, ist der Patient sicher. Wenn nicht, beginnt ein schwerer Immunsturm in der Lunge, in den Gefäßen und nicht selten auch im Darm, in der Niere oder im Herz. Dies kann die Org
In den internationalen Medien liest sich der Zustand der Region fast schon als Hölle auf Erden: Wie weit ist das System dort an seine Grenzen gestoßen?
„Der Zusammenbruch war damals nahe. Alles passierte auf einmal. Am Anfang stand das medizinische Personal Tag und Nacht unter enormem Druck und Stress. Sie baten sogar im englischsprachigen Fernsehen um Hilfe. Doch ist zum Glück das Gesundheitssystem in der Provinz nie wirklich zusammengebrochen.
Das Problem war die Aufnahmekapazität: Es gab nicht genügend Intensivstationen, so dass sie wählen mussten, welche Patienten behandelt werden und welche letztlich dem Tod erliegen. Dies hing von ihrem Alter, dem Ausmaß der Krankheit oder anderen schwerwiegenden Gesundheitsproblemen ab. Es war wie in einem Kriegskrankenhaus.
Nach drei schrecklichen Wochen kamen Verstärkung und die Schichtarbeit wurde menschlicher.
Seit wenigen Tagen benötigen weniger Menschen eine intensive Therapie und einen Krankenhausaufenthalt. Quarantäne liefert gute Ergebnisse!“
Ein hohes Maß an Dankbarkeit
Ich unterhalte mich mit Dr. Luigi Gelmi noch über trivialere Dinge und frage ihn im Zuge dessen, ob es eine Möglichkeit gäbe, der Lombardei in irgendeiner Weise zu helfen.
„Ich schäme mich fast, diese Spendenaktion anzusprechen, weil wir schon sehr viel Hilfe bekommen haben – auch wenn diese noch nicht unbedingt ausreicht. Doch unsere österreichischen Freunde haben sich sehr solidarisch mit uns gezeigt. Ich habe ein Foto mit den Bannern gesehen, die die Anhänger von Rapid Wien an der Wand der italienischen Botschaft in Wien aufgehängt haben: „Non mollare (nicht aufgeben)“, Danke, das ist Bergamos Motto!“
Doch konnte ich ihm trotz seiner bescheidenen und zurückhaltenden Art entlocken, wie man helfen kann. Mit Hilfe von einem Song- Download des italienischen Sängers Roby Facchinetti kann man neben dem Erwerb des Titels – oder sogar dem reinen Anhören auf Spotify – auch zugleich das Krankenhaus unterstützen. Ihr könnt aber auch direkt dem überlasteten Krankenhaus Papa Giovanni XXIII hier helfen – nicht nur finanziell, sondern auch personell.
Die Demut und die positive EInstellung, die Dr. Luigi Gelmi trotz der schrecklichen Situation an den Tag legt, sind bemerkenswert. Gemessen an dem, was dort im letzten Monat geschehen ist und eigentlich noch immer geschieht, sind unsere Probleme mit der Quarantäne und den Einschränkungen fast lächerlich. In dieser Situation sollten wir uns vielleicht nicht an dem Besseren orientieren, sondern froh sein, dass es uns nicht auch so kalt erwischt hat, wie unsere südlichen Nachbarn.
Titelbild Credits: Shutterstock
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