Wütende Twitter-User, die kontroverse Bücher, Filme und Meinungen boykottieren und Protestierende der Back Lives Matter-Bewegung, die gegen Polizeigewalt und Rassismus kämpfen, haben denselben Ursprung – sie sind das Erzeugnis der heiß diskutierten Cancel Culture. Was ist das genau und welche negativen Aspekte begleiten sie?
Was ist Cancel Culture?
Nach fragwürdigen Aussagen oder Handlungen von Personen des öffentlichen Lebens und Unternehmen wird meist über Konsequenzen diskutiert – alles im Lichte eines kollektiven Moralempfindens. Grundsätzlich nicht schlecht, oder? Doch diese Bewegung geht noch einen Schritt weiter.
Cancel Culture bedeutet, jemanden öffentlich zu boykottieren, Auftritte zu unterbinden, die Person auszulöschen. Jegliche Unterstützung wird zurückgezogen. Bewusste Distanzierung mit jeglichen Werken, die mit der betreffenden Person zu tun haben, steht im Vordergrund. Ob begutachtete Handlungen dabei in der Gegenwart oder Vergangenheit liegen ist oftmals irrelevant. Die Social Media-Nutzer werden zum popkulturellen Korrektiv. Doch dürfen oder sollten wir diese Macht über individuelle Schicksale haben?
Die Entscheidung darüber, ob jemand gecancelt werden sollte, fällt ebenfalls in den sozialen Netzwerken. Es ist ein kollektiver Beschluss, der sich rasant wie ein Lauffeuer verbreitet. Manchmal reichen wenige Stunden aus, um eine Person oder ein Unternehmen zu „canceln“.
Gewissenhaftes Fact-Checking? Nicht selten bleibt dafür keine Zeit. Ein anderer vielfach verwendeter Begriff ist „Gericht der öffentlichen Meinung“. Mit juristischen Standards hat Cancel Culture jedoch wenig bis gar nichts zu tun, denn es muss sich dabei nicht um strafrechtlich relevante Dinge drehen.
Der Druck für die vermeintlich richtige Entscheidung einzustehen und sich bewusst zu positionieren ist groß. Ist man nicht dabei – und das lautstark -, läuft man Gefahr selbst gecancelt zu werden.
Aktuelle Fälle der Cancel Culture
Es fällt schwer, den Überblick zu behalten. Neben populären Fällen wie J.K. Rowling hat die Cancel Culture auch Youtuber wie Shane Dawson oder Jenna Marbles ins Auge gefasst. Während Shane Dawson mit durchaus schwerwiegenden Vorwürfen wie Befürwortung von Pädophilie aufgrund eines Podcast-Ausschnitts konfrontiert wird, geht es bei Jenna Marbles um Sketches, die vor beinah zehn Jahren veröffentlicht wurden. Nach einem ausgeprägten Shitstorm und Blackface-Vorwürfen infolge einer Nicki Minaj Parodisierung beendete Jenna Marbles sogar ihre Youtube-Karriere.
Wie bereits erwähnt hat sich zuletzt die Harry-Potter-Autorin Joanne K. Rowling mit einem angeblich transfeindlichen Tweet in diese Runde eingereiht. Es hagelte Kritik – auch von den Harry-Potter-Stars Daniel Radcliffe und Emma Watson. Was ebenfalls folgte: eine Debatte darüber, ob Joanne K. Rowling in Zukunft „gecanceled“ und ihre Bücher boykottiert werden sollen.
Doch wann darf und sollte eine Person gecancelt werden?
Nur, wenn es um strafrechtlich relevante Dinge geht? Oder dürfen auch persönliche Eskapaden und menschliches Verhalten begutachtet werden und im weiteren Schritt zu schwerwiegenden Konsequenzen führen? Geht es uns – als Fans – etwas an, ob die Person privat ein schlechter Mensch ist? Müssen Stars oder Unternehmen fehlerlos sein und eine Vorbildfunktion ausüben? Sind es unerreichbare (moralische) Standards, die hier erreicht werden sollen? Ist Cancel Culture das Ende von zielführender Aufklärung?
Und allen anderen Fragen voran: Stellen wir uns diese Fragen eigentlich noch, bevor wir auf den „Cancel-Train“ aufspringen?
Initiativen wie der Harpers-Letter – bei dem auch J.K. Rowling unterschrieben hat – versuchen der Cancel Culture entgegen zu wirken und die Möglichkeit einer offenen Diskussion wieder in den Raum zu stellen. Die Meinungen sind hier gespalten. Der Harpers-Letter erntet jedoch weitaus mehr Kritik als Lob.
Das Online-Medium „Jubilee“ hat in einem Youtube-Video GegnerInnen und BefürworterInnen der Cancel Culture miteinander diskutieren lassen. Auch hier sind die Meinungen gespalten. Was deutlich hervor sticht: Die Cancel Culture-Debatte ist ein sehr emotionales Thema.
Vorteile- und Nachteile der Cancel Culture
Cancel Culture verleiht uns eine Stimme. Umso mehr Menschen laut werden, umso lauter wird auch die Stimme. Dieses „gehört Werden“ verleiht dem „einfachen Volk“ Macht. Prominente Personen und Unternehmen werden angreifbar und kommen mit fragwürdigen Handlungen nicht mehr so leicht davon. Die Sensibilisierung, die dabei stattfindet, hat durchaus Vorteile.
Blackfacing, transphobische Aussagen und Misshandlungen sollten Konsequenzen nach sich ziehen. Cancel Culture schafft durchaus Raum und Möglichkeit zur Weiterentwicklung. So lehrt sie Werte und ein moralisches Empfinden, indem sie für Themen sensibilisiert. Neben diesen Vorteilen zieht diese Bewegung aber auch massive Nachteile mit sich.
Wenn Menschen aufgrund ihrer Vergangenheit bewertet und im weiteren Schritt gecancelt werden, wird die Möglichkeit zur Weiterentwicklung genommen. Entschuldigungen und tatsächlich geändertes Verhalten werden wertlos. Die Personen werden in ihrem vergangenen, negativen Mindset festgehalten. Die Möglichkeit zu Veränderung ist damit zunichtegemacht. Ist hier die Moralkeule wirklich sinnvoll?
„Nur die Dosis macht das Gift“ – Moral kann gelernt werden
Ist Cancel Culture nun positives oder negatives Beiprodukt unserer Generation? Die Gratwanderung zwischen berechtigter Kritik und sinnbefreiter Verurteilung ist manchmal nur schwer zu meistern. Wenn blind mitgemacht wird, um seiner eigenen „Cancelung“ zu entgehen, verschwimmen die Grenzen zwischen richtig und falsch. Die Bewahrung der eigenen Meinung, die auf einer kritischen, objektiven Beobachtung der Situation basieren sollte, wird wichtiger denn je.
Wichtiger als politisch korrektes Verhalten ist die Intention mit der ein Mensch handelt. Ist sie bösartiger Natur oder resultiert das Fehlverhalten aus anderen Gründen?
Fehler sind tatsächlich menschlich. Manchmal ist es „nur“ die Ignoranz aufgrund von fehlender Bildung und Unwissenheit, die Personen fragwürdige Dinge tun lässt. Statt sofort die „Cancel-Polizei“ zu rufen, darf ruhig in den Raum gestellt werden, ob die Person lernwillig und fähig zur Weiterentwicklung ist. Und, wenn dem so ist, ist Aufklärung und offener Diskurs vielleicht der bessere Weg.
Titelbild Credits: Shutterstock
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