Eine gesunde Ernährung, Sport und Muskelaufbau gehören heutzutage in jedes Selbstverständnis. Unterstützt von den Medien liegt dieser Lifestyle somit voll im Trend. Und niemand würde etwas dagegen einzuwenden haben. Hört auch ziemlich gesund an. Doch was passiert, wenn gerade das zur Sucht wird? Der Adonis-Komplex. Der Exzess eines gesunden Lebensstils?
Der Adonis-Komplex
Der sogenannte „Adonis-Komplex“ hat viele Namen. Muskelsucht. Reverse Anorexia oder Muskeldysmorphie. Doch was alle diese vielen Begriffe bezeichnen, ist immer nur ein und dasselbe Phänomen. Im Grunde ist der Adonis-Komplex eine (spezielle) Essstörung. Aber wohl eher eine Art Zwangsstörung.
Die Experten sind sich, was das betrifft, immer noch uneinig. Zur Abwechslung ist diese Muskeldysmorphie jedoch eine Krankheit, unter der viel mehr Männer leiden als Frauen. Im Vergleich zur Muskelsucht haben Bulimie und Magersucht nämlich einen deutlich höheren Frauenanteil.
Obwohl viele Symptome des Adonis-Komplexes der Anorexie gleichen, sind sich die Experten unsicher, ob Essstörung oder nicht. Denn im Unterschied zur (klassischen) Magersucht empfinden sich Betroffene dieser Störung nicht als zu dick. Opfer des Adonis-Komplexes nehmen sich nämlich als zu schmal und zu wenig muskulös wahr. Und das egal, wie muskulös sie in Wirklichkeit auch immer sie sind.
Verzerrte Wahrnehmung
Diese verzerrte Wahrnehmung des Körperbildes, auch „Körperschemastörung“ genannt, ist ebenso typisch für eine Magersucht. Bei der Muskelsucht sehen Betroffene sich jedoch selbst als zu schmal und wenig muskulös. Es verläuft somit in die Entgegengesetzte Richtung. Daher auch der Begriff „Reverse Anorexia“. Statt weniger, will man umgekehrt einfach mehr. Und auch wenn viele der Betroffenen bereits sehr viele Muskeln besitzen, hören sie nicht auf, mehr zu wollen. Die Störung trete vor allem bei Bodybuildern auf. Wobei ein jeder der darunter leidet, ja zwangsläufig ein Bodybuilder sein muss.
Naheliegende Symptome: Übermäßiges Training und exzessiver Fokus auf die Ernährung. Im Unterschied zur so genannten Sportsucht – die gibt es natürlich auch – steht bei der Muskelsucht eben der Muskel im Vordergrund und nicht nur der Sport allein.
Exzessiver Fokus auf den Körper
Der überverhältnismäßige Fokus, denn diese Muskelsüchtigen auf ihren Körper und die Ernährung legen, ist sehr kritisch zu betrachten. Dieser Zwang gehe so weit, dass Betroffene ihr Leben selbst einschränken. Ergebnis: ihre Lebensqualität vermindert sich dramatisch.
Es gibt keinen Platz für andere Themen und Lebensbereiche, die nicht mit dem eigenen Körper und der Ernährung zu tun haben. Körper und Ernährung. Ernährung und Körper. Ein teuflisches Hin und Her. Auf diese beiden Bereiche hat der Adonis-Komplexler seine Aufmerksamkeit fixiert. Und ist ein Besessener. Diese beiden Ebenen verwirren vor allem die Experten, die nicht wissen, ob es sich nun um eine Ess- oder Zwangsstörung handelt. Ein interessantes Problem, als wäre es so unglaublich, dass diese beiden Störungen zusammen auftreten können.
Ursachen der Muskelsucht
Eine vermutete Ursache dieses Körper-Komplexes ist das Schönheitsideal, das in der Gesellschaft vorherrscht. Ein kulturell geschaffenes Gebilde, das auch die mögliche Ursache für Magersucht ist. Ganz klassisch, symbolisieren männliche Muskeln Erfolg, generieren Anerkennung und gelten daher als attraktiv und erstrebenswert. Bilder von dieser Art Mann sieht man überall. In Filmen. Serien. Zeitschriften. Aber vor allem in den sozialen Medien.
Ein anderer Aspekt dieser Krankheit bildet das gesellschaftliche Ohnmachtsgefühl vieler Männer. Inwiefern? Auf dem Abstellgleis haben diese keinerlei Einfluss mehr auf die Gesellschaft. Die eigene Beeinflussung des Körpers – denn der ist alles, was diesen Menschen noch bleibt – wird daher als identitätsstiftend angesehen.
Die Arbeit am Körper verleiht einem das Gefühl einer Selbstwirksamkeitserfahrung. Anfangs bekommen Betroffene sogar das Gefühl, ihr Leben selbst wieder in die Hand nehmen zu können. Ein enormer Boost, wenn man bedenkt, wie wenige Menschen einen Einfluss auf ihre Umstände haben und ihr Leben – im Gegensatz zur Gängigen „Propaganda“ – eben nicht selbst gestalten können. Zumindest nicht in dem Maße, was von der Gesellschaft als erfolgreich etikettiert wird.
Das Bedürfnis zu beeindrucken
Normalerweise nimmt man eher an, dass Frauen angehalten sind, mediale Schönheitsideale zu verkörpern. Doch dieses brandaktuelle Phänomen des Adonis-Komplexes (Muskelsucht) straft diese Annahme als fehlerhaft ab. Sineb el Masar zum Beispiel analysierte das Thema Muskelsucht in ihrem Buch Muslim Men speziell in Bezug auf muslimische Männer mit Migrationshintergrund.
Bei diesen Männern „… scheint der Adonis-Komplex nun durch das Bedürfnis hervorgerufen zu sein, andere Menschen – beiderlei Geschlechts – zu beeindrucken und von ihnen Bewunderung zu ernten. (…) Traditionelle Geschlechterrollenstereotype sind weitere einflussreiche Faktoren. Solche Männer und Jungen haben ein größeres Problem mit der Gleichberechtigung der Geschlechter.“1
Das optische Erscheinungsbild wird somit zum Zeichen glorifizierter Männlichkeit. Und wenn man sich in anderen kulturellen oder gesellschaftlichen Bereichen eben nicht hervortun kann – im Sinne Bourdieus, sein Kulturelles-Kapital Anhäufen kann – dann investiert man eben überverhältnismäßig viel in seinen Körper. Wenn man sonst schon „nichts hat“. Das hört sich vielleicht blöd an, ist aber ein reales Problem, das Verständnis erfordert.
Bodybuilder als Kinder oft Opfer von Mobbing
Einen anderen Gesichtspunkt vertreten die Psychologen Dieter Wolke und Maria Sapouna von der Warwick Medical School. Sie befragten Bodybuilder zu ihren Kindheitserfahrungen und entdeckten, dass viele davon Opfer von beleidigenden Schikanen durch Gleichaltrige waren. Somit sind früher und vor allem früh erfahrene Mobbingerfahrungen, die zu einem geringen Selbstwertgefühl führten, auch ein großer Teil der Ursachen für Muskelsucht.
„Viele Muskeln könnten auch dazu dienen, sich zu wehren und zurückzuschlagen“, interpretieren die beiden diese Krankheit. Somit ist diese Muskelsucht teils auch eine Unfähigkeit, adäquat mit Konflikten umzugehen. Der Adonis-Komplex stelle diesbezüglich zumeist einen Bewältigungsversuch irgendeiner Art dar. Perfektionismus gekoppelt mit einem negativen Selbstwertgefühl sind daher keine gute Mischung.
Das fatale an diesem Phänomen ist, dass es zu Beginn nicht wirklich auffällt. Zumeist erst dann, wenn es schon spät ist. Denn am Anfang trifft der Entschluss, mehr Sport zu treiben und Muskeln aufzubauen auf Wohlwollen. Klar, ist ja auch nichts schlechtes dabei! Sport und gesunde Ernährung sind doch gesund.
Das zu Beginn positive Feedback aus dem Umfeld verstärkt das Verhalten der Muskelsüchtigen dann noch. Gekoppelt mit anderen Faktoren, kann sich dann recht schnell eine Sucht aus diesem Lifestyle entwickeln. Muskelsucht ist somit ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Faktoren und kann nicht auf eine Ursache allein zurückgeführt werden.
Mögliche Folgen der Muskelsucht
Die Folgen dieser Störung sind gravierend. Die Spitzte des Eisbergs sind soziale Isolierung aufgrund der fehlenden Zeit für soziale Kontakte. Eben aufgrund eines exzessiven Trainings- und Ernährungsplans. In einem nächsten Schritt führe diese Fokussierung dann auch zu einer Abhängigkeit vom Training.
Durch allgemeine Überanstrengung führt Muskelsucht auch zu einem höheren Verletzungsrisiko. Logisch. Wer dem Körper zu wenig bis keine Erholung (Regeneration) gönnt, leidet unter einer Abnahme der Leistungsfähigkeit. Antriebslosigkeit und Müdigkeit gehen hierbei Hand in Hand. Recht häufiger Nebeneffekt: Depressionen.
Die Muskelpräparate, auf die dann häufig zurückgegriffen wird, erweisen sich als kontraproduktiv. Die Einnahme wirkt sich negativ auf die Gesundheit aus. Herz- und Lebeschäden, erhöhte Aggression. Kognitive Probleme und Potenzschwierigkeiten. Richtig gelesen. Impotenz ist eine mögliche Folge der Muskeldysmorphie. Zurückzuführen auf den häufigen Gebrauch der Anabolika. Deren Missbrauch, aber auch die andauernde Überanstrengung können zu einer verminderten Libido und Impotenz führen.
Der Anabolikagebrauch könne außerdem zu ernsthaften Herz-Kreislauf-Problemen führen. Was recht paradox ist, in einer Welt, in der einem Mann umso mehr Potenz zugeschrieben wird, je wahrscheinlicher sich in Wirklichkeit seine Fruchtbarkeit reduziert. Ein Teufelskreis.
Hypermaskulinität – unrealistische Schönheistideale
Hypermaskulinität ist ein Problem. Die genauen Ursachen der Störungen sind unklar, genauso wie es schwer ist, aus diesen Anzeichen eine mögliche Diagnose zu schließen. Doch sind die Ursachen vor allem auch unklar, weil psychische Erkrankungen bei Männern immer noch ein Tabuthema sind.
Wissenschaftlich allerdings feststellbar ist, dass die Orientierung an gesellschaftlichen Normen und traditionellen Geschlechterstereotypen eine einflussreiche Rolle spielt. Darüber schreibt auch Lisz Hirn in ihrem Buch „Wer braucht Superhelden“. Männer, die sich mit der Rolle des klassischen Mannes identifizieren und durch moderne und alternative, männliche Rollenbilder verunsichert sind, scheinen eher unter dem Adonis-Komplex zu leiden, als andere. Es wird somit versucht, über das Aussehen eine idealisierte Männlichkeit herzustellen. Welches es per se nicht gibt. Somit geraten die Muskelsüchtigen in einen Teufelskreis.
Fazit: Die moderne Gesellschaft hat wieder einmal ein Phänomen verursacht, das niemandem etwas bringt. Und während veraltete Rollenbilder leider immer noch wirken, wird zu wenig unternommen, um diesem ideologischen Konflikt sinnvoll entgegenzuwirken. Vielleicht stellt verstärkte Bildung eine Option dar, wo den Menschen beigebracht wird, diese falschen Ideale zu durchschauen. Doch leider gibt es eine mächtige Fashion Industrie, die genau dadurch ihr Geld verdient. Mit hyper-realen Schönheitsidealen, die man auf natürliche Weise nicht erreichen kann.
1Sineb El Masar (2018): Muslim Men. Wer sie sind, was sie wollen. Freiburg/Breisgau: Herder-Verlag, Seite 168ff.
Titelbild Credits: Shutterstock
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