Optimismus hilft in vielen Lebenslagen, aber er hat auch seine Grenzen. Dann nämlich, wenn er negative Emotionen gänzlich verdrängt und toxisch wird. Denn auch schlechte Laune hat ihre Daseinsberechtigung und muss ausgelebt werden. Vor allem aber soziale Medien vermitteln häufig eine toxische Positivity.
Wenn sie ein Mensch wäre, dann wäre sie die Person, die immer lacht, gute Laune hat und freundlich zu allen ist. Wenn du ihr von deinen Problemen erzählst, erwidert sie: „Nimm’s doch nicht so schwer!“ Das hilft vielleicht, wenn du beim Spieleabend verlierst oder eine schlechte Note kriegst. Aber sicher nicht, wenn die Depression dich gerade zu verschlingen droht oder du traurig und verzweifelt bist, weil du Existenzängste hast oder um einen Menschen trauerst.
In solchen Momenten können solche Pep Talks genau das Gegenteil bewirken. Man fühlt sich mit seinen Problemen allein gelassen, empfindet Schuld dafür, schlecht drauf zu sein, unfähig um „richtig“ mit der Situation umzugehen. Jene gute gemeinten Ratschläge befeuern Selbstzweifel in Momenten, in denen man genau dieses Selbstvertrauen eigentlich am meisten bräuchte. Und: sie verhüllen das eigentliche Problem so lange, bis es hinter all den knallbunten ‚Be happy, don‘t worry‘-Wandstickern kaum noch zu erkennen ist.
Always look on the bright side of life
Die Rede ist von toxic positivity. Zu Deutsch: eine ungesunde und giftige positive Einstellung. Gerade in Krisenzeiten wie der aktuellen Corona-Pandemie erfährt dieses Paradigma einen Höhenflug, weil klar, Krisen sind ja vor allem Chancen!
Floskeln wie „stay positive“, „sei nicht so negativ“, oder „gib nicht auf“ begleiten unseren Lockdown. Mittlerweile merken aber die meisten von uns, dass die Krise uns nicht zu Profisportler*innen gemacht hat, die wenigsten von uns weltbewegende Projekte initiiert haben und wir auch nicht das geschafft haben, was sonst immer liegen bleibt – weil wir schlichtweg keine Nerven dafür hatten. Und das alles, obwohl wir versucht haben positiv zu bleiben.
Positive Emotionen sind gesund, negative Erregungen dagegen schlecht für unser Wohlbefinden. Lachen ist gut für unser Immunsystem, Optimisten leben länger als Pessimisten und sie sind weniger anfällig für chronische Krankheiten und Depressionen. Wie schon das berühmte Monty Python Lied sagt „Always look on the bright side of life“. Alles andere bringt dich auch nicht weiter – denn am Kreuz hängen wir alle.
Das ist der Tonus, der uns eingeprägt wird. Wie so oft spielen auch hier die Sozialen Medien eine große Rolle. Vermeintlich motivierende Sprüche auf blühenden Hintergründen propagieren die Sonnenseite des Lebens. Als wäre sie nur ein paar Worthülsen entfernt.
Positiv sein reicht nicht
Nun könnte man sagen: Ist doch gut so, lieber positiv als negativ. Mag sein. Die positive Auswirkung von Optimismus auf unsere Gesundheit ist in unzähligen wissenschaftlichen Studien nachgewiesen. Wie könnte positives Denken also jemals schädlich sein?
Darauf lässt sich zweierlei entgegnen. Zum einen stehen jenen Studien, die einen positiven Effekt von Optimismus auf die Gesundheit zeigen, anderen gegenüber, die statistische Fehler in den Untersuchungen offenbaren und die These vom heilbringenden Optimismus anzweifeln. Auch Pessimismus hätte seine Vorteile, wie der ZEIT Artikel „Zu schön, um wahr zu sein!“ sehr anschaulich darstellt.
Gut und schlecht gehören zusammen
Zum anderen gibt es einen kleinen aber feinen Unterschied zwischen einer optimistischen Lebenseinstellung und ihrem toxischen Gebrauch. Wirft man einen Blick hinter die Zeilen des berühmten Liedes, verbirgt sich dort ein stoischer Kern. Demnach besteht der Weg zum “Glück” darin zu akzeptieren und seinen eigenen Platz im Weltgefüge auszufüllen. Ohne dabei weder von der Sehnsucht nach Freude noch von der Angst vor Schmerz angetrieben zu werden.
Kurzum: Negative Seiten werden genauso anerkannt wie positive – beide sollten einen selbst nur nicht zu stark beeinflussen. Laut dem Camebridge Dictionary versteht man unter Optimismus “the quality of being full of hope and emphasizing the good parts of a situation, or a belief that something good will happen.” Die Hoffnung stirbt zuletzt, sozusagen.
Auch hier kein Wort davon, dass man negative Aspekte ignorieren soll, sondern Zuversicht und Hoffnung als Hilfsmittel in schweren Situationen nützlich sein können.
Der Blickwinkel der Psychologie
Auch in der Psychologie gibt es Ansätze, die eine getrennte Untersuchung des Einflusses von positiven und negativen Emotionen auf unsere Gesundheit kritisieren. Sie konzentrieren sich auf das Zusammenspiel beider Gefühlsregungen. Nach dem Motto: “taking the good with the bad.” Eine über zehn Jahre andauernde Studie – mehrerer Universitäten aus den USA und Europa – fand heraus, dass eine starke Frequenz positiver und negativer Emotionen nicht nur eng verknüpft ist mit physischer Gesundheit, sondern dass gemischte Emotionen sogar das Aufkommen typischer altersbedingter Beschwerden verringern können.
Der US-amerikanische Autor Cody Delistraty ist zudem der Meinung, dass der ewige Wahn nach dem Glück und die Verdrängung negativer Emotionen ein anglo-amerikanisches Phänomen sind, das sich in der westlichen Welt verbreitet habe. Menschen aus westlichen Kulturen seien zehnmal so hoch gefährdet, Depressionen zu bekommen, als jene aus östlicheren Kulturen. In Ländern wie China oder Japan würden gute wie schlechte Emotionen gleichwertig angesehen, weder das eine gesucht, noch das andere gemieden werden.
Natürlich soll dieser Artikel kein Plädoyer für schlechte Laune, Selbstmitleid und Pessimismus sein. Aber wenn Lachen als ausgelebte Emotion gesund macht, dann wohl auch Weinen. Sind die schlechten Emotionen erstmal rausgespült, steht den Positiven auch nichts mehr im Wege. Besonders wohltuend ist das gemeinsam mit einem Gegenüber, das in eine gepflegte Runde Klagen einstimmt. Manchmal hilft eben kein rosaroter Filter, manchmal ist alles oarsch.
Titelbild Credits: unsplash.com
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