In einer Welt, in der jeder zweite Instagram-Post mit „My passion is my purpose“ beginnt und der Algorithmus dich täglich daran erinnert, dass du dein „wahres Potenzial“ noch nicht ausgeschöpft hast, fühlt man sich schnell wie der letzte Mensch ohne Visionboard, Cold-Plunge-Routine und einem Side-Business für selbstgegossene Sojawachskerzen. Und ganz ehrlich? Das ist vollkommen in Ordnung.
Leidenschaft: Kraftvoll, aber kein Muss
Leidenschaft ist etwas Großartiges. Sie kann uns antreiben, inspirieren, sogar durch schwierige Zeiten tragen. Leidenschaftliche Menschen empfinden oft mehr Sinn in ihrem Tun, sind belastbarer und erleben häufiger diese magischen Flow-Momente, in denen man die Zeit vergisst, weil man völlig in einer Tätigkeit aufgeht. Leidenschaft verleiht Energie, fördert Motivation und bringt uns oft dazu, über uns hinauszuwachsen.
Kein Wunder also, dass viele sie als Schlüssel zu einem erfüllten Leben sehen. Aber genau hier wird’s kritisch: Wenn Leidenschaft plötzlich zur Pflicht wird.
Die romantisierte Suche nach dem „einen Ding“
Die Vorstellung, dass jeder eine große, alles verändernde Leidenschaft haben muss, wird nicht nur romantisiert – sie setzt viele Menschen unnötig unter Druck. Oft wird suggeriert, man müsse nur „seiner Leidenschaft folgen“, als wäre sie ein leuchtendes Ziel irgendwo am Horizont. Aber Leidenschaften entwickeln sich. Manchmal beginnt es mit einem kleinen Interesse, einem Impuls, einer Neugier. Man probiert etwas aus, findet Gefallen daran – oder eben nicht. Und beides ist okay.
Manche Menschen entdecken mehrere Interessen im Laufe ihres Lebens. Andere verlieren das Interesse wieder. Leidenschaft ist kein linearer Prozess, sondern oft ein buntes Durcheinander. Manchmal wächst sie langsam oder sie bleibt ganz aus. Auch das ist kein Makel.
In der Selbstoptimierungsgesellschaft wird alles zur Aufgabe
Das Problem: Unsere Gesellschaft macht aus fast allem eine Challenge. Ernährung, Sport, Achtsamkeit, Freundschaften, Studium, Karriere – überall lauert der Optimierungszwang. Du sollst gesund leben, aber auch entspannt sein. Fit sein, aber bitte ohne toxische Gym-Vibes. In der Uni und im Job performen, dabei aber empathisch, kreativ und teamfähig bleiben. Und nebenbei: deinen Lebenssinn finden. Oder zumindest deinen Kalender durchplanen.
Die Realität? Viele von uns hangeln sich durch den Tag, während der Instagram-Feed uns Menschen zeigt, die scheinbar immer motiviert, erfüllt und „on fire“ sind. Nur: Niemand postet, wenn er erschöpft im Bett liegt, völlig reizüberflutet von der eigenen To-do-Liste.
Wenn selbst gesunde Gewohnheiten krank machen
Ein gutes Beispiel ist das Thema Ernährung. Natürlich ist es sinnvoll, auf sich zu achten. Aber wenn aus dem Wunsch, gesund zu essen, ein Zwang wird – zum Beispiel bei Orthorexie, also der übersteigerten Fixierung auf „richtiges“ Essen – verliert selbst eine gute Sache ihren Wert. Wenn du beim WG-Abend ein schlechtes Gewissen bekommst, weil es Pizza statt Quinoa gibt, läuft etwas schief. Dieser ständige Druck, „alles richtig“ zu machen, macht auf Dauer müde. Man verliert die Freude an Dingen, die eigentlich gut tun sollten.
Leidenschaft ist keine Währung
Ein besonders nerviger Mythos in diesem Kontext: Dass eine Leidenschaft nur dann zählt, wenn man damit etwas erreicht – idealerweise Geld oder einen sozialen Status. Aber nicht alles, was wir tun, muss nützlich oder „verwertbar“ sein. Manchmal reicht es, wenn sich etwas einfach gut anfühlt.
Leidenschaft darf zweckfrei sein, im Kleinen entstehen und langsam wachsen. Das macht dich nicht weniger wertvoll. Vielleicht ist deine aktuelle Leidenschaft Schlaf. Oder Pasta. Oder nichts. Auch das ist in Ordnung.
Tipps, falls du trotzdem Lust hast, was zu finden
Falls du Lust hast, etwas zu entdecken, das dich begeistert – aber keinen Plan hast, wo du anfangen sollst: Probiere Dinge aus, ohne Erwartung, ohne Leistungsdruck. Sprich mit Leuten über ihre Hobbys. Frag dich, was dich als Kind fasziniert hat. Lies ein Buch zu einem Thema, das dich interessiert. Und vor allem: Gib dir Zeit. Leidenschaft ist kein Wettbewerb.
Warum das Nichts eine Superkraft ist
Inmitten dieses ganzen Optimierungswahns wird eine Sache massiv unterschätzt: Nichtstun. Klingt banal, ist aber für unser Gehirn überlebenswichtig. Psycholog:innen sprechen vom Default Mode Network – einem Zustand, in dem das Hirn sortiert, verarbeitet und kreativ wird. Das passiert jedenfalls nicht beim Multitasking, sondern wenn du aus dem Fenster schaust, die Decke anstarrst oder einfach nur atmest.
Nichtstun ist kein Leerlauf. Es ist mentale Wartung. Es ist der Moment, in dem du nicht funktionieren musst und gerade deshalb zu dir findest.
Schluss mit dem Dauer-Hustle
Wir müssen endlich aufhören, Ruhe mit Schwäche gleichzusetzen. Niemand ist dafür gemacht, ständig produktiv zu sein. Manchmal ist das Beste, was du für dich tun kannst, genau das Gegenteil von dem, was der Algorithmus dir gerade vorschlägt. Vielleicht hast du heute keine Lust, Kontakte zu pflegen. Keine Energie, dich in ein neues Projekt zu stürzen. Und absolut null Interesse, „die beste Version deiner selbst“ zu werden. Dann ist das kein Scheitern – das ist Selbstfürsorge.
Leg dich aufs Sofa. Starre die Wand an. Schau drei Folgen derselben Serie, ohne aufzupassen. Oder tu einfach mal gar nichts. Dein Wert hängt nicht davon ab, wie sehr du dich optimierst oder wie gut du deine Leidenschaft vermarktest.
Leidenschaft kann das Leben bereichern – ja. Sie kann inspirieren, antreiben, Freude bringen. Aber sie ist kein Pflichtprogramm. Du bist kein halbfertiger Mensch, nur weil du gerade keine „große Vision“ hast.
Titelbild © Shutterstock
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