Auf TikTok, in Insta-Captions und in jeder zweiten WhatsApp-Sprachnachricht: Das Wort „toxisch“ ist mittlerweile zum Allround-Begriff für alles geworden, was uns verletzt. Aber stimmt das eigentlich? Und warum ist es besser, genauer hinzuschauen?
Das Wort, das vom Chemielabor in unsere Chats wanderte
„Toxisch“ kommt ursprünglich aus der Medizin und Biologie und heißt schlicht: giftig. Giftstoffe, toxische Substanzen, toxische Reaktionen – alles klar definiert. Heute aber taucht das Wort ganz woanders auf. Auf Social Media ist es zum Allround-Label geworden: toxische Beziehungen, toxische Eltern, toxische Arbeitsplätze. Das klingt griffig, macht sich gut in einem Reel oder einem Tweet, aber es reduziert komplexe Situationen auf ein Schlagwort. Denn wer „toxisch“ sagt, meint in den meisten Fällen etwas anderes: verletzend, respektlos, manipulativ oder schlicht belastend.
Psycholog:innen warnen, dass der inflationäre Gebrauch des Begriffs problematisch ist. Wer einen Menschen als toxisch bezeichnet, erklärt ihn damit quasi zum wandelnden Gift. Das ist endgültig und lässt wenig Raum für Veränderung.
Dabei sind es nicht ganze Personen, die schädlich sind, sondern ihr Verhalten in bestimmten Situationen. Ein Kollege kann egoistisch auftreten, ein:e Partner:in kann lügen oder manipulieren. Aber das heißt nicht, dass dieser Mensch in seiner ganzen Existenz giftig ist. Das Wort „toxisch“ nimmt uns die Möglichkeit, genauer hinzusehen.
Ein Beispiel: Wenn jemand laut wird und dich herabsetzt, ist es hilfreicher zu sagen: „Dein Ton verletzt mich“ oder „So wie du gerade mit mir sprichst, fühle ich mich klein gemacht“. Das benennt konkret, was weh tut, ohne die Person komplett abzustempeln. Sprache ist hier nicht nur Etikett, sondern Werkzeug und das sollten wir präziser einsetzen.
Warum Social Media „toxisch“ liebt
Dass der Begriff so groß geworden ist, liegt auch an seiner Schlagkraft. „Toxisch“ klingt sofort ernst, gefährlich, absolut. In TikTok-Trends reicht ein 10-Sekunden-Clip, um „toxic boyfriend“ als Erklärung für monatelange Beziehungskrisen zu liefern.
Es ist verständlich, dass wir nach einfachen Kategorien suchen. Wer verletzt wurde, will klare Worte. Aber das Problem ist: Wenn alles sofort „toxisch“ heißt, bleibt kein Platz für Grautöne. Beziehungen sind komplex. Nicht jede schmerzhafte Erfahrung bedeutet, dass jemand grundsätzlich schlecht für uns ist. Manchmal geht es um Missverständnisse, unterschiedliche Bedürfnisse oder schlicht Situationen, die zwei Menschen überfordern. Statt das Verhalten zu reflektieren oder Lösungen zu suchen, packen wir das Ganze in eine Box, schließen den Deckel und sagen: Thema erledigt.
Wann das Wort trotzdem Sinn macht
Ganz verteufeln muss man „toxisch“ nicht. Es gibt Kontexte, in denen es hilfreich ist. Zum Beispiel, wenn es nicht um Einzelpersonen, sondern um Strukturen geht: toxische Männlichkeit etwa beschreibt Verhaltensmuster, die in einer Gesellschaft immer wieder vorkommen. Dominanz, Gewaltlegitimation, Abwertung von Frauen – hier dient der Begriff dazu, ein kulturelles Problem sichtbar zu machen.
Auch in Debatten über Arbeitskulturen („toxische Firmenkultur“) kann das Wort helfen, Muster zu beschreiben, die vielen Menschen gleichzeitig schaden. Wichtig ist nur: Wir reden dann über Systeme oder Strukturen, nicht über die angeblich „giftige“ Natur einzelner Menschen.
Verletzend ist nicht gleich toxisch
Wenn wir jedes verletzende Verhalten sofort als „toxisch“ etikettieren, nehmen wir uns selbst Chancen. Zum einen riskieren wir, Beziehungen vorschnell aufzugeben, die vielleicht durch Kommunikation heilbar wären. Zum anderen verschleiern wir, worum es eigentlich geht: um Gewalt, Machtspiele, Manipulation oder schlicht Respektlosigkeit.
Statt „toxisch“ können wir präzisere Worte wählen. Zum Beispiel: „Ich fühle mich durch dein Verhalten verletzt.“ Oder: „Das war respektlos.“ Oder auch: „Deine Art hat mich verunsichert.“ Solche Sätze sind direkter, ehrlicher und öffnen im besten Fall die Tür für Veränderung.
Warum es wichtig ist, Sprache ernst zu nehmen
Worte sind nicht neutral. Sie formen, wie wir über uns selbst und andere denken. Wenn wir Menschen pauschal als toxisch abstempeln, bauen wir Mauern. Wir schaffen Distanz, anstatt uns die Möglichkeit zu geben, zu reden, zu verstehen oder uns bewusst abzugrenzen. Psycholog:innen sagen deshalb klar: Es gibt keine toxischen Menschen. Es gibt nur Verhalten, das verletzend ist. Und das ist eine entscheidende Unterscheidung. Denn Verhalten kann man ändern, Menschen sind nicht unverrückbar in ihrer Rolle festgelegt.
Mehr Differenzierung, weniger Drama
„Toxisch“ ist ein Wort, das uns schnelle Erklärungen liefert. Es passt perfekt zu Social-Media-Trends, ist aber oft zu grob, um wirklich hilfreich zu sein. Wenn wir lernen, genauer zu benennen, was uns verletzt, machen wir es nicht nur fairer für die andere Person, sondern auch leichter für uns selbst. Denn am Ende brauchen wir weniger Schlagworte und mehr Ehrlichkeit. Nicht jeder Mensch, der uns weh getan hat, ist giftig. Aber jedes Verhalten, das verletzt, darf klar benannt werden. Und genau das bringt uns im echten Leben weiter als jedes TikTok-Meme.
Titelbild © Shutterstock
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