Im Grunde macht man sich nicht wirklich Gedanken darüber, wie das jeweilige Gesundheitssystem eines Landes funktioniert. Ein Fehler, denn wenn man genauer hinsieht, sind es gerade diese Bereiche, die den allgemeinen Wohlstand einer Gesellschaft gewährleisten, einige wenige bevorzugen oder sogar moralisch verwerfliche Verhältnisse begünstigen, in denen sich einige wenige bereichern. Einen neuen Trend, was das betrifft, gibt es auch schon: Upcoding.
Gesundheit in Deutschland – eine kleine Geschichte der letzten Jahre
Jahrelang hat man in der Bundesrepublik Deutschland über die Umgestaltung der gesetzlichen Krankenversicherungen diskutiert. „Gestritten“, würden manche das Intermezzo zwischen CDU und SPD wohl eher nennen. Erstere favorisierte eine so genannte Kopfpauschale – ein feststehender und für jeden gleich hoher Versicherungsbeitrag. Unabhängig von Einkommen!
Bedeutet: alle bezahlen dasselbe, egal, ob reich oder arm. Wäre jetzt recht unvorteilhaft – manche würden auch sagen „blöd“ – für die Armen. Aber toll natürlich für die Vielverdiener:innen. Aber was hätte man von der CDU wohl anderes erwartet? Das SPD-Modell, unterstützt von den Grünen und den Linken, hieß Bürgerversicherung. Die Beitragshöhe dieses Ansatzes orientiert sich am Gesamteinkommen.
Der Gesundheitsfond als gefährlicher Nährboden für das Upcoding
Doch in der Großen Koalition 2005 konnte sich keine Partei mit ihrem Ansatz durchsetzen. Ergebnis: beide Modelle wurden vermischt und herauskam der sogenannte Gesundheitsfond. Dieser hat einige fatale Änderungen mit sich gebracht. Denn bis zu seiner Einführung haben die Versicherten ihre Beiträge direkt in die jeweilige Krankenkasse eingezahlt. Die Beiträge werden natürlich immer noch eingezogen, landen aber nicht mehr bei den Krankenkassen, sondern in einem einzigen Topf – dem Fond.
Aus diesem einen großen Gesundheitsfond erhalten die Krankenkassen nun das Geld. Doch die Parameter haben sich verändert, denn die Höhe der Geldsumme ergibt sich nämlich aus der sogenannten Morbidität. Bedeutet: „Je mehr Kranke und je schwerere Krankheiten bei den Versicherten einer Krankenkasse vorliegen, desto höher ist die Zuweisung aus dem Gesundheitsfond“, erklärt Bernd Hontschik in seinem aufschlussreichen Buch Heile und Herrsche!
© Shutterstock
Das bürokratische Ungetüm M-RSA
Doch damit ist die Sache immer noch nicht ausgestanden, denn für dieses neue System wurde sogar ein neuer Begriff erfunden, der Morbiditäts-Risikostrukturausgelich (M-RSA). Dabei handelt es sich um einen komplizierten Ausgleichsmechanismus zwischen den Krankenkassen.
Dieser Mechanismus basiert auf einer Liste von achtzig chronischen, ausgabenintensiven Erkrankungen. Ein recht komplexes und kompliziertes Klassifikationssystem, wofür sogar ein neuer wissenschaftlicher Beirat gegründet wurde. Die Kassen müssen die Diagnosen und Arzneimittel ihrer Versicherten nun erfassen, anonymisieren und einmal im Jahr dem Bundesversicherungsamt melden. Je schwerer die Erkrankungen sind und je mehr Erkrankungen von der „Liste der 80“ eine Krankenkasse melden kann, desto mehr Geld erhält sie aus dem Gesundheitsfonds.
Upcoding und die Umwälzung des Gesundheitssystems
Dieser recht unscheinbare Paradigmenwechsel ging wie ein Erdbeben durchs Land und erschütterte jede einzelne Arztpraxis in Deutschland. Von da an war es nicht mehr interessant, die Patienten und Patientinnen möglichst gesund zu halten, da diese, wenn ihnen nichts fehlt, eben weniger Einnahmen generieren. „Im Gegenteil: Je schwerer die Krankheit, desto mehr Geld gibt es für die Kassen“, erläutert Bernd Hontschik weiter.
Sogar spezielle „Berater“ tauchten plötzlich auf und besuchten Arztpraxen, um diese zu lehren, dass man einen grippalen Infarkt vielleicht doch auch als „Verdacht auf Lungenentzündung“ interpretieren kann, sich eine Schwindelattacke als „leichter Schlaganfall“ deuten lässt usw., zeichnet Hontschik ein trauriges Bild des deutschen Gesundheitssystems. Dieser Prozess der Umdeutung von Krankheiten hat sogar einen speziellen Namen: „Upcoding.“ Die Diagnosen werden nämlich codiert an die Krankenkassen weitergemeldet. Für Ärztinnen und Ärzte, die an diesem „Upcoding“ teilnahmen, gab es von den Krankenkassen sogar eine Prämie pro umgedeuteten Fall.
Upcoding – aufgedeckt und doch geht der Betrug weiter
Zum Glück wurden diese kriminellen Praktiken von immer mehr Whistleblowern aus den Arztpraxen selbst an die Öffentlichkeit gebracht, sodass sich der Bundesverband davon distanzierte. Wobei im Jahre 2016 der Chef der Techniker Krankenkasse sich zu der Causa äußerte. Und meinte, dass Krankenkassen ständig weiter „schummeln“ würden und Ärztinnen und Ärzte weiterhin zu Betrug und Veruntreuung angehalten werden. Bernd Hontschik meint in seinem Buch sogar, dass sich das Betrugssystem des Upcoding seit der Einführung des diagnosebezogenen Rechnungswesens (DRG) in den Krankenhäusern in noch viel größerem Umfang stattfindet.
Willkommen in der Gesundheitsindustrie
Es ist einfach nur traurig, wie die Medizin sich verändert hat und in Form eines profitablen Geschäftsmodells ihre Seele verliert. Die Politik macht es mit ihren grandiosen Maßnahmen nicht gerade besser. Klar, schwerere Erkrankungen kosten mehr Geld. Doch wie man sich gerade daran auch schamlos bereichern kann, wurde in letzter Zeit immer wieder – vor allem von der Pharmaindustrie – deutlich unter Beweis gestellt.
Titelbild © Shutterstock
DAS KÖNNTE SIE AUCH INTERESSIEREN
Die absurdesten Verschwörungstheorien
Sie verweben Unglaubliches, Fantastisches und Wahnhaftes. Wir haben die absurdesten Verschwörungstheorien für dich gefunden.
Wie sich China und die USA die Welt aufteilen – und Europa zusieht
In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat sich wirtschaftlich und geopolitisch so einiges getan. Die Volksrepublik China ist zum Big […]
Mini-Apartments in Tokio: 10m2 für 77 Cent im Monat: was steckt dahinter?
Im Zentrum von Tokio werden Wohnungen vermietet, deren Fläche nur 10 Quadratmeter beträgt und deren Miete mindestens genauso klein ist. […]
Reden wir mal Tacheles - warum der Weltfrauentag bitter notwendig ist
Heute ist es wieder mal soweit – internationaler Weltfrauentag. Schon wieder. Ist der wirklich nötig? Schließlich leben wir im 21. Jahrhundert, Frauen sind emanzipiert und gleichberechtigt – naja, fast – und wählen dürfen sie auch schon. Und das bisschen Unterschied im Gehalt, was macht das schon? Ich bin überzeugt, dass nicht wenige Menschen so darüber denken. Und das ist einfach falsch. Ja, wir leben im 21. Jahrhundert, aber von einer gerechten Welt in Bezug auf Frauenthemen sind wir noch weit entfernt. Ein paar Beispiele gefällig? Bitte sehr:
Dinge, die du über die Temu App wissen solltest
Der chinesische Online-Shop Temu bietet Billigware zu unglaublich niedrigen Preisen. Doch hinter der Temu App verbergen sich Gefahren.
Gewalt gegen Frauen: Subtiles Victim Blaming durch das Bundeskriminalamt
Ein Informationsblatt mit „Verhaltenstipps im öffentlichen Raum“, das das Bundeskriminalamt im Innenressort anlässlich des Internationalen Weltfrauentages am 8. März verfasst […]