Es gab immer wieder filmische Versuche, die Pornoindustrie jenseits des konkreten Pornofilms darzustellen. Boogie Nights und Zack and Miri Make a Porno sind da nur einige populärere Beispiele. Dennoch kann man sagen, dass dieses cineastische Unterfangen bis dato niemandem so gut gelungen ist, wie Evgeniy Milykh mit seinem kleinen Ausnahmefilm Artem & Eva. Streambar auf ARTE.
Der Porno im Film: scheitern vorprogrammiert
Der Pornofilm bzw. Pornoelemente im populären Kino sind keine Seltenheit. Spannendstes Beispiel ist dabei Gaspar Noés Film Love (2015). Seine Vision war es, die Genres Porno und Liebesfilm miteinander verschmelzen zu lassen. Dies ist ihm durchaus gut gelungen. Mit dem kleinen Schönheitsfehler, wenn man so will, dass der Hauptdarsteller Karl Glusman mit einem Dauerständer durch den Film zu wandeln scheint. Aber sonst ist Noés Arthouse-Koitus sehr überzeugen und auch wirklich sehenswert. Um die Pornoindustrie geht es dabei jedoch nicht.
Diesem Thema widmet sich Paul Thomas Andersons Film Boggie Nights (1997), mit einem Staraufgebot, das geradezu unverschämt ist. Mark Wahlberg, Burt Reynolds, Julianne Moore, William H. Macy, Heather Graham, Don Cheadle, Philip Seymour Hoffman, John C. Reilly, Luis Guzmán, und Co. bangen sich hier durch die wilden 1970er Jahre und das Golden Age of Porn. Kleiner Schönheitsfehler hier: der Sex kommt hier so schambehaftet daher wie in einem Walt Disney-Zeichentrickfilm. Einen Film über die Pornoindustrie zu machen und dabei so radikal auf nackte Haut zu verzichten ist praktisch eine Meisterleistung.
Seriöse Pornofilme mit cineastisch und inhaltlichem Anspruch
Dabei könnte man noch etliche andere Beispiele anführen. Der Pornofilm und seriöses Kino lassen sich scheinbar nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Versuche gelingen mehr oder weniger gut, bleiben aber alles andere als überzeugend.
Vor allem das Menschliche kommt in diesen Versuchen nur selten gut rüber. Zu oft ist den psychologischen Tieffahrten die oberflächliche Inszeniertheit des Gefickes im Weg. Sex menschlich darzustellen ist ein Unterfangen, das vermutlich nur sehr, sehr wenige Filme gut gemacht haben.
Das Problem mit der filmischen Darstellung von Sex
Wie man es dreht (und wendet), Sex wirkt in diesen Genre-Misch-versuchen (aber vermutlich auch in allen anderen Mainstream-Filmen) immer zu aufgesetzt. Klar, etablierte Hollywoodstars dazuzubekommen, in ihrem Spiel wahrhaft pornesk zu werden, ist wirklich zu viel verlangt. Seinen Ruf aufs Spiel setzten und realistisch auf Porno zu machen, können und wollen außer Charlotte Gainsbourg (Nymphomaniac und AntiChrist) vermutlich nicht viele.
Obwohl es bei Lars von Trier nicht um Pornos geht, gibt Gainsbourg alles, was sie kann. Bewundernswert die schauspielerische Leistung, auch wenn die Filme an sich jetzt nicht zu von Triers Besten gehören und eher plump provozieren wollen. Aber das ist ein anderes Thema.
Artem & Eva: Zwischen Porno und Liebe
Mit dem Film Artem & Eva – Zwischen Porno und Liebe gibt es jetzt scheinbar zum ersten Mal einen Film, der Porno und Kino gekonnt verbindet. Die Geschichte ist schnell erklärt: Artem und Eva, beide 22 Jahre alt und aus Omsk in Sibirien, sind noch mitten im Studium und sehen sich mit steigenden Lebenshaltungskosten konfrontiert.
Um mehr Geld zu verdienen und sich mehr leisten zu können, entscheiden sie sich dazu, einen Amateurporno zu drehen. Ihr Video verbreitet sich auf der Plattform Pornhub und bringt ihnen das benötigte Geld ein. Eva wird zu einem gefeierten Pornostar und nimmt den Künstlernamen „Eva Elfie“ an. Artem hilft ihr, ihr Englisch zu verbessern, beantwortet ihre E-Mails und wird schließlich ihr Manager.
Gemeinsam setzen sie Regeln fest, um ihre Beziehung zu schützen: Aufgrund von Artems Eifersucht drehen sie nur zusammen und niemals mit anderen Darstellern. Doch mit zunehmender Bekanntheit erhält Eva immer mehr Angebote aus ganz Europa und wird sogar für einen Preis in der US-Pornoindustrie nominiert.
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Zwischen Studentenleben und Porno-Ruhm
Die Story scheint jetzt nichts Besonderes. Dennoch ist Artem & Eva ein wunderbarer Film. Einfühlsam erzählt und ehrlich in Szene gesetzt bekommt man einen menschlichen Eindruck vom Geschäft hinter dem Geschäft. Abseits des Porno-Ruhms gewährt einem dieser Film tiefe Einblicke in die Dynamiken der Szene abseits der großen Produktionen.
Wie gelangweilt Artem uns anblickt, während die Kamera auf seine Freundin gerichtet ist und der Regisseur/Kameramann ihr Anweisungen erteilt, ist geradezu parodistisch. Verdeutlicht jedoch bravourös den zerstückelten Blick, den gewöhnliche Konsument*innen auf Pornos haben. Im Porno sieht man nur den Penis und den Mund der zur Cosplay-Barbie zurechtgemachten Eva. Die Wahrheit ist jedoch der Blick Artems, es ist der Blick hinter den Kulissen. Das Menschliche, was man sonst nicht sieht.
Das ist die Stärke dieses dokumentarischen Films: ein wahrhafter Blick hinter die Kulissen der Pornoszene, in denen zwar das Geld fließt, die Ausbeutung aber immer auf der Rückseite lauert. Und der Erfolg? Artem will aufhören. Eva nicht. Der kleine Ruhm der Pornoszene ist ihr zu Kopf gestiegen, ein Ruhm, der sich aus den Klickzahlen speist, die einem jene Männer geben, die im stillen Raum des Internets freudig zu Evas Inhalten masturbieren. Ein zweifelhafter Ruhm, auch wenn die Kohle passt, ein Ruhm, in dem der Mensch nicht gesehen wird und die Dienstleistung an oberster Stelle steht.
Artem, Eva und der Blick
Auch der Rahmen ändert sich mit der Zeit. Für Eva „ficken sie in den Pornokulissen doch genauso wie zu Hause“. Artem sieht das anders. Er versteht den Blick, durchschaut ihn. Eva bleibt an dem lüsternen Blick der Klicks und des Geldes hängen. Als es zur finalen Wegscheide kommt, aufhören und ein ruhiges Leben führen oder weitermachen und „den Ruhm“ voll auskosten, sind sich beide nicht einer Meinung.
Artem & Eva ist ein Dokumentarfilm, der anschaulich den Weg „zum Erfolg“ dokumentiert, denn Eva gibt es wirklich. Selten hat man so einen menschlichen Blick einfangen können. Den Blick zweier junger Menschen in Zeiten allgemeiner Ausbeutung. Zwei Menschen, die inmitten einer neoliberalen Ideologie einfach nur ihr Leben leben und versuchen, ihr kapitalistisches Glück zu finden.
Titelbild © Shutterstock
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