Andrew McMillans Gedichtband Physical: Männlichkeit und Sex jenseits von Porno
Andrew McMillan setzt „Körperlichkeit“ in den Mittelpunkt seines lesenswerten Gedichtbandes Physical und umrahmt diese mit feierlich ehrlichen Gedichten über Männlichkeit, Sexualität und Angst. Das Körperliche, das vielen Lyriker*innen oft misslingt, geht bei McMillan jedoch voll auf und er rüttelt versiert am Status Quo männlicher Körperlichkeit, die allzu oft im Porno stecken bleibt. Eine Leseerfahrung, die genauso schockiert wie bewegt.
Die fehlende Körperlichkeit des Lyrischen
Das Lyrische, die Lyrik hat es im Allgemeinen so an und in sich, eben alles andere als körperlich zu sein. Auch wenn der Körper bzw. Körperlichkeiten natürlich be- und um- und ge-schrieben werden, liegt die sprachliche Verspieltheit im Vordergrund. Die Tatsache der Existenz von so etwas wie Körperlyrik ist für diese Behauptung kein Widerspruch.
Oftmals scheitert der Poet, die Poetin an der eigenen sprachlichen Verkopftheit, so dass eine konkrete Verbindung mit der körperlichen Realität für die Lesenden nicht klar (nach)gefühlt werden kann.
Bedeutet: lyrisches Kopfkino in dem die es Schaffenden ihre eigenen psychischen Gegebenheiten verhandeln und sich auf eine Begriffsebene hievend, der Realität versperren, wenn man das so beschrieben will oder kann.
So wirkt vieles von dem Ge- und Er-dichtetem nicht gelebt, sondern eher gefühlt, gedacht, erdacht, geträumt und oft auch eingebildet. Von der Realität flieht die Poetin, der Poet in ein sprachliches Konstrukt.
Dort zelebriert man Sprache und Wörter, doch die Wirklichkeit, das Reale bleibt dabei außen vor. Sprache wird hier von der Realität entfremdet. Was jetzt nicht ein allzu arger Vorwurf ist, denn Sprache (allein) soll ja auch im Mittelpunkt des Lyrischen stehen.
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Eindringliche Körperlichkeit: Freundschaft, Liebe, Sex
Warum dieser Punkt so breitgetreten wird, erscheint klar, wenn man den Bogen zu Andrew McMillans Gedichtband Physical (zu Deutsch leiblich, körperlich) spannen will. Denn in die klassische Falle fehlender Körperlichkeit tappt der englische Lyriker nämlich nicht. So wird in seinem Band der Titelgebende Name wirklich zum Programm und die Körperlichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Werk. (Nach)fühlbar, spürbar, erlebbar.
Hymnisch und eindringlich beschreibt McMillan den männlichen Körper, die männliche Freundschaft aber auch die männliche Liebe. Geradezu religiös, zelebriert, stemmt sich das Körperliche in jedem Gedicht in den Mittelpunkt und das in immer anderen Formen. Einmal ist der Körper verwundbar, dann wieder begehrt, dann ist er unterdrückt und wird wieder geliebt.
Andrew McMillan und der Atem der Lesenden
McMillan driftet dabei zum Glück nicht zu sehr ins Metaphysische und Poetische ab. Seine Worte bleiben der Alltagssprache verhaftet und am Boden, streben aber doch auch ins Musikalische empor, indem die Tempi oftmals auch wild variiert werden.
Stark in den Fokus rückt in seinen Gedichten das Konzept der hegemonialen Männlichkeit, der männlichen Körperlichkeit, wobei diese durchwegs infrage gestellt, ja sogar zum Einsturz gebracht wird. Was jedoch immer bestehen bleibt, ist der Mensch und die Beziehungen, die wie eine Art heiliges Denkmal zwischen den Zeilen und Körpern schimmern.
McMillan verzichtet dabei gekonnt auf konventionelle Interpunktion und orientiert sich stattdessen am Atem des Lesenden. Und auch das ist eine Körperlichkeit, der lebendige Atem eines lebenden Körpers. Dieser Ansatz verleiht den Gedichten ein außergewöhnliches Gefühl von Lebendigkeit und Präsenz. Etwas, dass in der gegenwärtigen Lyrik oftmals fehlt.
Fazit oder abseits von Porno
Vermutlich sind uns allen die literarisch-sexuellen Ausschweifungen eines Michel Houellebecq bekannt, der in seinen Beschreibungen für gewöhnlich immer knapp am Porno vorbeischrammt, wenn überhaupt.
Auch Andrew McMillans Werk ist durchzogen von Sexualität und Männlichkeit, doch wählt der englische Lyriker einen ganz anderen Ansatz, als sein französischer Kollege. Seine musikalische Sprache, die tief in der Alltagssprache verwurzelt bleibt, erzeugt eine gelebte Intimität, welche vor allem männliche Sexualität auf ein, man muss es so sagen, höheres Niveau holt. Für gewöhnlich im Pornseken und somit dem Oberflächlichen verhaftet, entfaltet sich für das Männliche bei McMillan eine neue Form der Empfindsamkeit.
Bei McMillan bedeutet Intimität mehr als einfach nur Sex zu haben. Für McMillan bedeutet Intimität: „den genauen Geschmack von Schlaf im Mund eines anderen beim Aufwachen zu kennen“. Und das ist ein Unterschied, ein lyrischer Unterschied, der das Körperliche feierlich mit einer Alltagssprache besingt, ohne dabei ins Vulgäre und Obszöne, bewusst Provozierende abzudriften.
Titelbild © Shutterstock
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