Die Angst vor einer radioaktiven Wolke ist groß, doch ist diese verhältnissmäßig noch weit weg von uns, betrachten wir die nahegelegene Ukrainische Hauptstadt. Wir haben uns mit Fjodor K. aus Kiew über die Wahrnehmung in unmittelbarer Nähe unterhalten und ihn nach seiner Sicht der Dinge gefragt.
2020 bringt – milde gesagt – bis jetzt nicht die besten Voraussetzungen für ein ansatzweise sorgenfreies Lebens, denn leider machen auch Probleme anderer Art offenbar keinen Halt vor aktuellen Umständen.
Während wir in der Coronavirus Bubble langsam vor uns dahinschmoren, spielen sich in Osteuropa Horrorfilmszenarien ganz anderer Art ab. Zusätzlich zur Quarantäne, die Millionen von Menschen in der Ukraine dazu zwingt, zu Hause zu bleiben, wüten seit knappen zwei Wochen wüste Brände in der Region von Tschernobyl und versetzen die nun auch die Bewohner der 70km entfernten Hauptstadt Kiew in große Panik.
Eine womöglich folgenschwere Katastrophe
Es ist Donnerstag der 16. April, 09:23, und es sollte eigentlich ein ganz normaler Tag in Quarantäne werden – mit Betonung auf sollte.
Fjodor K. macht die Tür zum Balkon auf und freut sich auf ein paar genüssliche Atemzüge der morgendlichen Frühlingsluft, bis ihm auffällt, dass sein tägliches Ritual – die kläglichen paar Minuten eines Versuches, den Kopf frei zu kriegen – heute wohl ins Wasser fallen wird, genauso wie sein abendlicher Spaziergang am Dnjepr (Anm. Fluss, der durch Kiew fließt) entlang.
Dunkle Wolken und eine beim bloßen Einatmen stechende Luft begrüßen heute die 3 Millionen Einwohner der Hauptstadt der Ukraine.
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Neben der wochenlang anhaltenden Dürre und dem Mangel an Regen, was Landschaften vollkommen ausgetrocknen ließ, wurden viele Partikel des trockenen Bodens durch starke Windböen aufgewirbelt und haben sich mit Rauchschwaden der eigentlichen Brände zu einer sandsturmartigen Masse formiert – doppelt gemoppelt sozusagen.
Schweigendes Kopfschütteln ist angesagt, als würde man nicht eh schon genug leiden derzeit.
Hintergründe zum Brand in Tschernobyl
Fjodor K. ist nicht der Einzige, der sich das fragt, jedoch hat er eine plausible Antwort parat: Als landwirtschaftlich starkes Land, ist es in der Ukraine seit Jahrzehnten gewissermaßen „Tradition“, nach dem Winter brach liegende und abgeerntete Felder gezielt abzubrennen, um einerseits die Asche als Düngemittel verwenden zu können und andererseits nicht verwertbare Reste arbeitssparend zu beseitigen.
Ausgezahlt hat sich das Ganze nicht wirklich, denn diese vermeintlich „praktischen“ Brände gehen jetzt vollkommen nach hinten los.
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Ein neuer Kaffee als mentale Stärkung wird aufgesetzt, bevor er weiter in den tiefen Sumpf der Medienlandschaft abtaucht, wo diverse Verschwörungstheoretiker bereits am Start sind und fleißig debattieren. Von politisch motivierten Backgrounds, über böse Absichten der Regierung, die Bevölkerung durch eine immense Luftverschmutzung zum Zuhause bleiben zu zwingen, bis zu anderen haarsträubenden Theorien ist alles dabei.
Fjodor K. ist kein Fan von Verschwörungstheorien – er mag Fakten
In diesem Fall sind diese jedoch eher traurig: Tagelang hat Kiew die weltweit höchste Luftverschmutzung verzeichnet – schlimmer als Shanghai, Peking und diverse andere Städte, die sonst eher weniger für ihre klare Luft bekannt sind. Ein erneuter Blick nach draußen und ein kläglicher Versuch zu lüften bestätigen das.
Zusätzlich zu den strengen Ausgangsbeschränkungen, der Sperrung des öffentlichen Verkehrs – das Fortbewegen ist nur speziellen Personengruppen wie Ärzten oder der Exekutive gestattet, und nur mit Vorzeigen einer bestimmten ID – und andere Auflagen, die die Bewohner enorm treffen, kommt nun emotionaler Druck und eine sich kontinuierlich anschleichende Ungewissheit hinzu. Wie wird es denn weitergehen? Wann schafft man es, die Brände unter Kontrolle zu bringen? Und die wichtigste Frage: Wieso zur Hölle dauert das eigentlich so lang?
Eher undurchsichtige Erklärungen der Regierung rufen Skepsis hervor, denn diese hat schon nach einer knappen ersten Woche verkündet, es gäbe nur noch vereinzelte Glutnester zu löschen, was mit der derzeitigen Lage offensichtlich nicht korrespondiert.
Alles eher weniger gut für die Bewohner der Stadt, für die Gesundheit, für die knapp 30 Menschen aus einer am Ausgangsbrennpunkt nahen Siedlung, deren Häuser durch das unkontrollierte Feuer abgebrannt sind.
Die doch eher prekäre Lage lässt auch Fjodor K. nicht kalt, denn nun bekommt die „Isolation“ und „Quarantäne“ eine ganz neue Bedeutung. Anstelle der bis dato noch möglichen, ausgiebigen Spaziergänge, bleibt einem nichts mehr, außer die komplette Abschottung zuhause.
In der doch sehr großflächigen Hauptstadt werden viele Wege mit dem Auto zurückgelegt, so beispielsweise auch das Einkaufen. Beim Gedanken an all die Menschen, die jedoch nicht mobil sind und nun bei der nicht zu ertragenden Luft für alltägliche Besorgungen nach draußen müssen, läuft ihm ein kalter Schauer über den Rücken.
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Wie geht es weiter?
Mittlerweile hat Fjodor K. sein morgendliches Ritual wieder aufgenommen und die Luftverschmutzung geht langsam zurück. Aufatmen kann man jedoch noch lange nicht, denn mit zunehmend verstreichender Zeit wird auch das ewige Thema der Radioaktivität präsenter. Auch wenn der Gehalt radioaktiver Partikel laut offiziellen Angaben im Toleranzbereich liegt, so weiß man nicht, ob dies so bleiben wird.
Die Dramatik der Situation an sich mal weggedacht, bleibt nicht viel übrig, außer das Gefühl beißender Ungewissheit und den möglichen Folgen – auch psychologischer Natur -, die entstehen können bzw. bereits entstanden sind.
Auch nach einem erneuten Tag der vereinzelten Schwelbrände ist der Konsens der ganzen Situation für Fjodor K., dass es, außer seine irrationalen existenziellen Sorgen mit einem Glas Wein zu begießen, wohl keinen Konsens gibt, außer abzuwarten.
Titelbild Credits: Unsplash
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