Wer kennt es nicht? Und wem geht es nicht auf die Nerven? Das Warten. Vor allem das Warten in einer Schlange ist eine mehr als mühsame Angelegenheit. Doch das sogenannte „queue-jumping“ (zu Deutsch „Vordrängeln“) ist eine schnell wachsende Branche, wo man viel Geld verdienen kann. Wie das genau funktioniert erfährt ihr hier. Aber auch, was moralisch daran recht anrüchig ist.
Warten reiche Menschen eigentlich auch und stellen sich irgendwo an?
Wir Normalos kennen das Phänomen vom Flughafen in Form der priority-line. Wer mehr bezahlt, muss nicht lange warten und kommt auch zuerst ins Flugzeug. Wer zahlt schafft an! Natürlich kennen wir Normalos dieses Phänomen nur vom Zusehen und erleben es nicht selbst.
Oftmals neidisch beobachten wir, wie all jene, die sich das leisten wollen (und auch können), gemächlich an der Schlange, in der wir warten müssen, vorbeischlendern und auf das gelangweilte und beschäftigungslose Bodenpersonal am Schalter neben dem uns zugedachten zusteuern. Doch deren priority-life endet nicht hier.
In seinem empfehlenswerten Buch Der korrumpierte Mensch, fragt der Autor Jonathan Aldred: Was glauben Sie, wie reiche Menschen einen Themenpark besuchen? Auch deren Kinder wollen Disney World sehen. Doch ist es nur schwer vorstellbar, dass die globale Elite auch genauso stundenlag Schlange steht. Und wie machen es die Wohlhabenden nun?
500 Dollar pro Stunde für das überspringen der Warteschlange
Eine Antwort auf diese Frage ist, dass Disney ihnen z.B. für 500 Dollar pro Stunde (!) einen „VIP Fremdenführer“ zur Verfügung stellt. Dieser eskortiert die „Gestopften“ dann für bestimmte Attraktionen, die sie im Voraus gebucht haben, an den Anfang der Warteschlange. As simple as that! Logisch. Wer zahlt schafft an!
Sogar eine andere Lösung gibt es. Diese ist sowohl billiger als auch flexibler. Für 130 Dollar pro Stunde stellt DreamTours Florida seinen Kundinnen und Kunden einen „inoffiziellen körperbehinderten Führer zur Seite“. Dieser gibt sich einfach als Mitglied der Familie aus, sodass man mit ihm an der Seite an den Warteschlangen vorbeigehen kann. Körperlich beeinträchtigte Menschen müssen sich in Disney World nämlich nicht anstellen.
„Meine Tochter wartete eine Minute, um in „It’s a Small World“ einzusteigen. Die anderen Kinder mussten zwei-einhalb Stunden warten.“, erklärt eine gut situierte Mutter, die eben über Dream Tours Florida einen körperlich beeinträchtigten Guide engagiert hat. „Ohne einen Tour-Concierge kannst du nicht zu Disney gehen.“, schnieft sie. „So macht das obere eine Prozent Disney.“, so die Frau weiter.
Das queue-jumping als schnell wachsende Branche
Weil das stundenlange Anstehen zu den öffentlichen Kongresssitzungen in z.B. Washington D.C. für Anwälte, Lobbyisten und Politiker „Zeitverschwendung“ ist, beauftragen sie dafür lieber professionelle Ansteher. Zur Vermittlung dieses beliebten Studentenjobs gibt es sogar eine Linestanding-Agentur. Doch auch jenseits der Kongresssitzungen gibt es in den USA mittlerweile Agenturen, die man dafür bezahlt, eine Person zu engagieren (häufig sind es Obdachlose), die sich für die Kundinnen und Kunden in einer Warteschlange anstellt.
Reich werden durchs Warten für andere?
Kurios ist auch diese schon einige Jahre alte Geschichte. In New York hat Robert Samuel das Warten für andere sogar in ein erfolgreiches Business verwandelt. Seine Kundinnen und Kunden: faule, aber scheinbar umso wohlhabendere New Yorker und New Yorkerinnen, die verzweifelt nach Cronuts (Croissant-Donut-Gebäck) oder dem neuesten Apple iPhone begehren. Aber nicht warten wollen.
Sein Job? Für 60 Dollar (an Wochentagen) holt Robert Samuel z.B. zwei Croissant-Donut-Hybriden ab und liefert sie an Kundinnen und Kunden aus. Das sind 240 US-Dollar für acht Cronuts – Gebäcke, die im Laden selbst jeweils 5 US-Dollar kosten. Samuel ist normalerweise der erste in der Schlange, wenn er um 5 Uhr morgens ankommt. Und hat sogar Freunde dabei, die sich mit ihm anstellen. Warum? Weil es ein Kauflimit von zwei Gebäck pro Person gibt, heuerte er kurzerhand Freunde an, die für größere Bestellungen auf Liegestühlen sitzen.
Warten – eine ethische Frage?
Im November 2016 bildeten sich in ganz Indien vor den Banken lange Warteschlangen von Menschen, die möglichst schnell ihre großen Geldscheine in kleinere umtauschen wollten, bevor diese nicht mehr als gesetzliches Zahlungsmittel gültig waren. Reiche bezahlten Arme dafür, sich an ihrer Stelle anzustellen. „Früher war es gesellschaftlich verpönt oder gar illegal, mit seinem Platz in einer Warteschlange oder -liste Handel zu treiben.“, erklärt Aldred. Doch heutzutage vermittelt uns das marktwirtschaftliche Denken und vor allem die darauf fußende Ideologie, dass man mit Geld einfach alles machen kann, man alles machen darf, solange man dafür bezahlt. Wer zahlt, schafft an, heißt es so „schön“.
Aldred fasst zusammen: „Was das Leben im 21. Jahrhundert von allen früheren Epochen unterscheidet, ist allerdings nicht, dass heute „mehr“ Dinge auf Märkten gehandelt würden (…), sondern ein Wandel in unserem Denken: unsere wachsende Bereitschaft, ökonomisches Denken auf sämtliche Aspekte des Lebens anzuwenden.“
Wir denken uns nichts mehr dabei, wenn wir hören, wie Leute andere für weiß der Geier was bezahlen. Denn für uns ist ja klar, wer zahlt, schafft an. Vor allem der, der zahlen kann. Sie haben ja schließlich dafür bezahlt, so ein Dauerargument. Mit Geld kann man sich praktisch alles erlauben. Und das ist der fatale Denkfehler. Dasselbe mit dem Klimawandel. Die Reicheren wird es nicht wirklich treffen, wenn sie doppelt so viel für einen Flug bezahlen müssen – so what!?
Geld nimmt ihnen die Möglichkeit, ja eigentlich sogar die Pflicht, selbst wirklich Verantwortung zu übernehmen – im konkreten Handeln. Denn wenn ich alles outsourcen kann, wofür bin ich dann selbst noch wirklich verantwortlich. Und inwiefern kommt ein anderer überhaupt dazu für mich überhaupt die Drecksarbeit machen zu dürfen? Für Geld. Sollten wir nicht anfangen viel mehr Dinge selber zu machen, anstatt sie für Geld auszulagern, weil wir es können? Schon klar, warum selber machen, wenn man jemanden dafür bezahlen kann. Geld darf schließlich alles. Aber sollte es überhaupt alles dürfen?
Titelbild © Shutterstock
DAS KÖNNTE SIE AUCH INTERESSIEREN
Absurde AMS-Vermittlung: Apres Ski Lokale ab Dezember?
Beim AMS kommt es nicht selten vor, dass Arbeitssuchenden unpassende Stellen angeboten werden. Doch im aktuellen Fall sorgt die Stellenausschreibung […]
Spiritueller Narzissmus: Wenn Yoga, Meditation und Co nur das Ego fördern
Jede:r strebt in einer gewissen Form nach gesellschaftlicher oder sozialer Anerkennung. Das Ego füttern zu wollen, resultiert aus unserer zunehmend […]
Body Positivity: 10 bedeutende Künstler*innen der Bewegung
Auf der Suche nach Künstler*innen deren Werke sich gegen Bodyshaming und für Body Positivity einsetzten. Dann klickt euch durch unsere Liste!
"Red‘ ma Deutsch": Sprachexperte Ali Dönmez im Interview über die neue „Hausordnung“ in Wels
„Red‘ ma deutsch“ ist eine von fünf Regeln, welche die FPÖ regierte Stadt Wels im Rahmen einer „Hausordnung“ kürzlich erlassen […]
Orthorexie: Wenn gesundes Essen zur Sucht wird
Obst ist gesund, Kuchen ist ungesund. Jeder Mensch teilt Lebensmittel in gesund und ungesund ein. Grundsätzlich nichts Ungewöhnliches. Jedoch entwickeln […]
Werden wir Menschen immer dümmer?
Die gemessene Intelligenz stieg unaufhaltsam von Generation zu Generation. Doch vor einigen Jahren nahm unser IQ-Höhenflug ein Ende. Warum?