Shades Tours: Eine City Tour auf Wiens Schattenseite – Wie lebt es sich als Obdachlose/r in einer der lebenswertesten Städte der Welt?

Echte Menschen – echte Geschichten. Das ist das Motto von Shades Tours, einer Organisation, die Stadtspaziergänge zu Themen wie Armut & Obdachlosigkeit oder Drogen und Sucht anbietet. Bei diesen Stadtführungen erhältst du Einblicke in eine für die meisten Menschen komplett unbekannte Welt. Alle Touren werden von Betroffenen durchgeführt. Denn wer kann besser über das Leben auf der Straße erzählen, als Obdachlose selbst?
Unser Treffpunkt liegt in der Bäckerstraße im ersten Bezirk. Eine noble Gasse mit den besterhaltenen Renaissance-Bürgerhäusern der Stadt, wenige Meter entfernt vom Mozarthaus und vom Kaffee Alt Wien. Doch heute geht es nicht um die schicke Innenstadt, sondern um das, was für die meisten Menschen unsichtbar bleibt: das Leben der Obdachlosen in Wien.
Vor dem Restaurant Inigo warten bereits Tourguide Michi (Name von der Redaktion geändert) und eine kleine Gruppe von Interessierten. Im Inigo, so wird Michi später erzählen, arbeiten Langzeitarbeitslose, die hier Fertigkeiten wie Pünktlichkeit und Verlässlichkeit wieder erlernen und sich so auf den Arbeitsmarkt vorbereiten.
Es ist ein frostig-kalter Nachmittag. Die Teilnehmenden schütteln sich vor Kälte, stampfen verkrampft mit ihren Stiefeln auf den Gehsteig und schnäuzen sich in ihre Taschentücher. Michi trägt eng anliegende schwarze Jeans und eine schwarze Bomberjacke. Mit der rechten Hand stützt er sich auf einen Spazierstock.
Als die Letzten eintreffen, legt Michi los: “So! Start ma! Wir homs jo zum Glück net weit”, ruft er und marschiert schon ein paar Schritte voraus, zur gegenüberliegenden Jesuitenkirche, wo er seinen Stadtspaziergang mit einem kurzen Ratespiel zu Zahlen und Fakten rund um das Thema Obdachlosigkeit beginnt.
Fast 20.000 Menschen waren laut Statistik Austria im Jahr 2021 in Österreich als obdachlos oder wohnungslos gemeldet. Zwei Drittel davon waren Männer, fast 60 Prozent lebten in Wien. Aufgrund von explodierenden Mieten und immer höheren Lebenskosten droht die Zahl der Delogierungen und damit auch der Obdachlosen weiter zu steigen.
Wie viele Menschen akut obdachlos sind, ist nicht bekannt. Laut Schätzungen der Caritas verbringen aktuell mehrere Hundert Menschen in Wien die Nächte im Freien. Obdachlos zu sein bedeutet jedoch weit mehr, als kein Dach über dem Kopf zu haben. Neben Kälte, Nässe und Hunger leiden die Betroffenen vor allem unter Ablehnung und dem Unverständnis ihrer Mitmenschen. Obdachlosigkeit zehrt an den Kräften, verursacht Stress, macht krank – und vor allem einsam.
Michi war selbst von Obdachlosigkeit betroffen. Heute beantwortet er all unsere Fragen zum Thema Obdachlosigkeit in Wien und räumt mit gängigen Vorurteilen auf.
Obdachlos in Wien: Was tut man, wenn es einen trifft?
Wer in Wien obdachlos wird, meldet sich am besten bei der Caritas, rät Michi. Dort wird man an eine Notschlafstelle vermittelt. Ohne solch eine Zuweisung bekommt man auch keinen Schlafplatz.
“Und wenn euch ein Bettler erzählt, dass er Geld für eine Notschlafstelle braucht, dann erzählt er euch an Schmäh. Des heißt, a Göd braucht er vielleicht scho. Aba sicha net für die Notschlafstelle. Weil die kost nämlich nix.”
Warum schlafen Menschen auf der Straße, wenn es gratis Notunterkünfte gibt?
Die Bedingungen in den Häusern sind sehr unterschiedlich. In den einen ist Alkohol streng verboten, in anderen wird er toleriert. Haustiere sind auch nicht überall erlaubt. Es wird geschnarcht. Es stinkt. Und es wird gestohlen. “Mein Spind war wirklich jeden einzelnen Tag aufgebrochen”, berichtet unser Guide. Viele Menschen wissen auch gar nicht, dass sie sich melden können, oder sind nicht dazu in der Lage. Manche haben schlechte Erfahrungen mit Behörden gemacht, fühlen sich diskriminiert oder schämen sich – für ihre Lebensumstände, dafür, Hilfe anzunehmen, oder auch aufgrund psychischer Erkrankungen.
Der Platz ohne Namen
Die nächste Station unserer Wien-Tour liegt mitten im Zentrum und doch ganz versteckt. “Das ist der Platz ohne Namen”, meint Michi. Und: “Früher hat man hier vor allem Dealer und Junkies getroffen. Was hier gekauft wurde, wurde auch gleich hier konsumiert. Irgendwann hat dann die Polizei aber durchgegriffen”. Hier erzählt unser Guide, wie er selbst obdachlos wurde.
Michi lebte gemeinsam mit seiner Frau ein ganz normales Leben. Job, Wohnung, Beziehung. Bis plötzlich alles ganz recht schnell ging. Er entwickelte eine posttraumatische Belastungsstörung und dadurch auch Schlafstörungen und weitere psychische Probleme. Es kam zur Trennung von seiner Frau und Michi hatte von heute auf morgen keine Wohnung mehr. Eine Bekannte ließ ihn in ihrer Schrebergartenhütte wohnen, ein klassischer Fall von versteckter Obdachlosigkeit.
Als diverse Briefe von Michis Arbeitsstelle wieder retour kamen, wurde sein Chef hellhörig und stellte fest, dass Michi nicht mehr an seiner alten Wohnadresse gemeldet war. Es kam zur Kündigung. Wegen Unehrlichkeit. “Aber wer will schon in seiner Arbeit erzählen, dass man von seiner Frau rausgeworfen und obdachlos geworden ist?, fragt Michi in die Runde. Das Problem an der ganzen Sache: Obdachlose ohne Meldeadresse dürfen in Österreich nicht arbeiten. Weil das Finanzamt keinen Zugriff auf sie hat.
Was ist der Unterschied zwischen Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit?
Von Wohnungslosigkeit spricht man bei Personen, die keinen festen Wohnsitz haben, aber im Freundeskreis oder bei Familienmitgliedern übernachten können. Obdachlose hingegen haben weder einen festen Wohnsitz noch die Möglichkeit, bei Bekannten oder Verwandten unterzukommen.
Als “hart obdachlos” werden jene Menschen bezeichnet, die in Hauseingängen, unter der Brücke und anderen Orten im Freien übernachten, ihr gesamtes Hab und Gut in einem Einkaufswagerl oder einem Rucksack herumtragen und selbst im Sommer oft mit dickem Pulli und langem Mantel unterwegs sind, aus Angst, ihre letzten warmen Kleidungsstücke könnten auch noch gestohlen werden. Hier sieht man häufiger Männer als Frauen, vor allem weil das Übernachten auf der Straße für Frauen besonders gefährlich ist.
Frauen sind öfter versteckt obdachlos
Personen, die vorübergehend ohne festes Zuhause bei Bekannten oder auch bei Fremden leben, gelten als „versteckt obdachlos“, da dies oft am wenigsten bemerkt wird. Von dieser Art der Obdachlosigkeit sind mehr Frauen als Männer betroffen. Sie landen in einer Situation der Abhängigkeit, in der sie ausgebeutet, oft geschlagen und sexuell missbraucht werden. Auch diese Geschichten kennt Michi zuhauf: “Der Hawara sogt ihr daun: ´Waunst scho do bist, konnst a glei die Wohnung putzen und kochen. Und danach will ich Sex. Und wennst widersprichst, kriegst a Watschen und schlafst auf da Straßn.´”
Untergrund Tour Wien: Warum es für Obdachlose immer Suppe gibt
Die Shades Tour führt uns weiter durch die Innenstadt. Vor einer Kirche erzählt unser Tour Guide: “Direkt vor uns gibt es eine Tür, da kann man anklopfen, da kriegt man immer was zum Essen. Und direkt gegenüber, das ist das Haus, in dem die Anna Netrebko ihr Luxus-Penthouse hat. Das steht jetzt aber zum Verkauf. Hier liegen Arm und Reich wirklich ganz nah beieinander. ”Auch in der Gruft gibt es gratis Mahlzeiten und beim Canisibus gibt es täglich warme Suppe. “In Wien muss niemand hungern.” Aber warum immer Suppe? “Weil die jeder essen kann”. Menschen auf der Straße haben meist einen angeschlagenen Magen, Zahnprobleme oder auch gar keine Zähne mehr. Suppe können alle essen.
Shades Tours zu Obdachlosigkeit in Wien: Wer wird überhaupt obdachlos?
Die letzte Station unserer Tour liegt im Stadtpark. Ein paar Jugendliche drehen ihre Runden. Tourist*innen fotografieren sich vor dem Johann Strauss Denkmal. Auf einer Parkbank schläft ein Mann.
Betroffen von Wohnungslosigkeit sind nicht nur die stereotypen „Sandler“, betont Michi, also ältere, wohnungslose Männer mit zerschlissener Kleidung und Rauschebart. Immer häufiger trifft es auch junge Menschen und Frauen. Die Gründe für Wohnungslosigkeit sind so vielfältig wie die Menschen selbst. Als ersten Grund nennt unser Guide zu unserer Überraschung Naturkatastrophen. Wer Wohnung oder Haus verliert, steht auf der Straße. Man denke an die Hochwasser dieses Jahres. Michi erzählt von einem Wohnhaus in Wien, in dem sich ein Mann mit seinem Durchlauferhitzer inklusive des gesamten Hauses in die Luft gesprengt hat. Zum Glück war zu dem Zeitpunkt außer ihm niemand daheim. Trotzdem waren sehr viele Menschen von heute auf morgen obdachlos. Einige von ihnen konnten bei Freunden oder Verwandten unterkommen. Andere nicht.
Eine Erhebung der Statistik Austria zeigt, dass vorübergehende Wohnungslosigkeit gar nicht so ungewöhnlich ist. Etwa sechs Prozent der erwachsenen Bevölkerung haben eine solche Phase erlebt, was hochgerechnet rund 300.000 bis 440.000 Menschen in Österreich entspricht.
Michi lebt mittlerweile in einem Housing First Projekt. Dort wird er von einer Sozialarbeiterin, einer Ärztin, einem Psychologen, einem Psychiater sowie diversen Zivildienern unterstützt und fühlt sich gut versorgt. “Bei uns im Haus wohnen Menschen aus allen sozialen Schichten”, erzählt er. “Von der Chirurgin bis zum Rechtsanwalt. Der Jüngste ist 21, die Ältesten sind über 80”.
Wohnungs- und Obdachlosigkeit ist niemals allein die Verantwortung des Einzelnen. Häufig entsteht sie durch eine Kombination aus strukturellen Herausforderungen wie unsichere Arbeitsverhältnisse, Mangel an leistbarem Wohnraum oder geschlechtsspezifische Gewalt, sowie auch individuellen Schicksalsschlägen. Suchterkrankungen sind bei wohnungs- und obdachlosen Menschen sowohl eine mögliche Folge als auch eine Ursache der Obdachlosigkeit. Doch ein genauerer Blick auf die betroffenen Personengruppen zeigt deutlich: Es gibt nicht nur einen Weg, der Menschen auf die Straße führt. Die Realität ist, dass Obdach- und Wohnungslosigkeit grundsätzlich jede*n von uns treffen kann.
Die Chirurgin in Michis Wohnheim hat die Trennung von ihrem Mann nicht verkraftet und ist dem Alkohol verfallen, bis sie schließlich ihren Job und ihr soziales Netzwerk verloren hat. Der Rechtsanwalt mit gutem Verdienst und Wohnung im ersten Bezirk hat sich an der Börse verspekuliert und dann, um seine Verluste wieder auszugleichen, immer weiter Schulden gemacht, bis seine Frau sich trennte und er plötzlich ohne Geld und Wohnung da stand.
Ziel der zweistündigen Shades Tours ist es, Vorurteile abzubauen, respektvolle Gespräche auf Augenhöhe zu führen und Wien von einer anderen Seite kennenzulernen sowie Einblicke in unser Sozialsystem zu bekommen. Die Guides erhalten eine berufliche Perspektive und die Möglichkeit, aktiv in die Gesellschaft zurückzukehren. Die Tour bietet definitiv eine ganz besondere Erfahrung, bei der man zugleich einen wertvollen gesellschaftlichen Beitrag leisten kann.
Titelbild © Shutterstock
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