Basel, Februar 2020: Eine 33-Jährige wird am Heimweg von zwei Männern vergewaltigt. Einer der Täter legte Berufung ein und erreichte dadurch eine Milderung seiner Strafe. Der Grund: Das Opfer hätte in der Tatnacht zuvor „Signale auf Männer ausgesendet“, da sie offenbar mit einem anderen Mann auf der Toilette verschwand.
Es ist nur eines vieler Urteile, die dafür sorgen, dass Opfer von Sexualverbrechen die Tat im Zweifel lieber nicht anzeigen. Dies beweist auch eine Statistik: Nur 8,8% der Frauen erstatten Anzeige. In den 80ern ging man sogar von einer Dunkelziffer zwischen 1:10 bis 1:25 aus. Betroffene Personen stellen sich regelmäßig die Frage ihrer Mitschuld und werden durch langwierige Gerichtsprozesse zusätzlich darin bestätigt.
Tragen die Opfer Mitschuld?
Frauen trifft vielfach der Vorwurf, sie würden sich zu freizügig kleiden und lasziv auftreten. Außerdem sei es grob fahrlässig, als weibliche Person viel Alkohol zu trinken. Da man sich dadurch bewusst der Gefahr des sexuellen Missbrauchs aussetze. Als Frau nachts alleine unterwegs sein? Kann man zwar machen, darf sich dann aber nicht über sexuelle Belästigung aufregen. Schließlich könnte Frau auch ein Taxi bestellen. Wer mit einem weiblichen Genital auf die Welt kommt, muss also schon früh Präventivmaßnahmen ergreifen, so der Konsens. Maßnahmen, (potenzielle) Täter in Zaum zu halten, existieren hingegen nicht.
Fakt ist, dass die Kleidung und das Verhalten der Opfer von sexualisierter Gewalt nicht ausschlaggebend sind. Das zeigt auch eine aktuelle Wanderausstellung in Bayreuth, für die 12 betroffene Frauen ihre Kleidung zur Verfügung stellten, die sie zum Tatzeitpunkt trugen. 2017 wurden in Lawrence (USA) 18 Kleidungsstücke ausgestellt, darunter auch Bekleidung von Kindern.
Today in Lawrence: 18 innocent outfits symbolize 18 sexual assault victims in 'What Were You Wearing?' display. Story on @fox4kc at 6. pic.twitter.com/pIJrYg1SLD
— Rebecca Gannon (@GannonReports) September 13, 2017
Und was sagen die Österrreicher:innen dazu? Im Jahr 2016 wurde in allen EU-Mitgliedstaaten eine Umfrage zum Thema häusliche und geschlechtsspezifische Gewalt durchgeführt. Dabei stellte man auch die Frage gestellt, ob es etwaige Umstände gibt, die Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung rechtfertigen könnten. Lediglich 62% der befragten Österreicher:innen gaben an, dass es für Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung unter keinen Umständen eine Rechtfertigungsgrund geben könne. 8% der weiblichen und 9% der männlichen Befragten waren der Ansicht, dass das Tragen von freizügiger, provozierender oder sexy Kleidung einen Entschuldigungsgrund darstelle. Etwa 24% der befragten Personen stimmten der Aussage zu, Frauen würden Missbrauchs- oder Vergewaltigungsvorwürfe oftmals erfinden oder übertreiben.
Im Falle der 33-jährigen Schweizerin relativierte das Gericht die Tat außerdem damit, dass der Übergriff nur elf Minuten gedauert und keine körperlichen Verletzungen verursacht hätte. Des Weiteren schiene es nicht so, als hätte das Opfer psychische Folgeschäden davongetragen, da es keine Psychotherapie besuche, so die Begründung der Entscheidung.
Was ist sexualisierte Gewalt?
Unter sexualisierter Gewalt bzw. sexualisiertem Machtmissbrauch sind Handlungen mit sexuellem Bezug zu verstehen, die ohne Einwilligung der betroffenen Person erfolgen. Darunter fallen insbesondere strafrechtlich relevante Delikte wie geschlechtliche Nötigung, Vergewaltigung und sexueller Missbrauch einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person. Der Gewaltbegriff trifft zu, wenn die Täter nicht Opfer im Sinn von Fehltritten und die Opfer nicht Mittäter sind. Die Vermutung der Mittäterschaft besteht etwa dann, wenn das Opfer die Tat provoziert. Hierbei handelt es sich allerdings vielfach um „victim blaming“ (Täter-Opfer-Umkehr).
Wenn Diebstähle wie Vergewaltigungen besprochen werden würden:
Der Dieb wurde durch die Schönheit des Autos dazu verleitet, dieses zu klauen. Der Autobesitzer trägt eine Teilschuld, schließlich hätte er das Auto für immer in der Garage lassen können. Durch die Zurschaustellung
— Frau Adsini (@ZeitzeuginGuddy) July 31, 2021
Daten und Fakten aus Österreich
Drei Viertel aller Frauen in Österreich wurden Opfer sexueller Belästigung und fast ein Drittel aller Frauen musste sexuelle Gewalt erleben. Bei etwa 90% der Betroffenen sexueller Gewalt waren die Täter ausschließlich männlich. Irrtümlicherweise wird häufig angenommen, die Täter seien überwiegend Unbekannte. Das Gegenteil ist der Fall: Nur in 19,5% der Fälle handelt es sich um eine männliche unbekannte Person. In allen anderen Fällen stammt der Täter aus dem unmittelbaren oder mittelbaren Umfeld.
Die eigene Wohnung, die grundsätzlich ein sicherer Ort sein sollte, wurde bei 32,3% der betroffenen Frauen zum Tatort. Nur ein sehr geringer Anteil – nämlich ca. 14% – wurden auf der Straße Opfer sexueller Gewalt. Wie also konnte sich der Mythos, Frauen würden durch ihr Outfit oder ihr Verhalten eine Vergewaltigung provozieren, überhaupt so lange halten?
Hat die Me-Too-Bewegung etwas verändert?
Entgegen der Annahme, es werde mittlerweile jeder Mann der Vergewaltigung bezichtigt und verurteilt, bezeugt die Datenlage etwas anderes. 1990 betrug die Verurteilungsquote bei Vergewaltigungen nach § 201 StGB 19,5%. Im Jahr 2019 ist sie fast auf die Hälfte, nämlich auf 10,34%, gesunken. Bei sexueller Belästigung und öffentlichen geschlechtlichen Handlungen betrug die Verurteilungsquote im Jahr 2019 lediglich 8,9% und ist seit den 2000ern nicht merklich angestiegen. Der einzige Unterschied: Es wurden mehr Belästigungsfälle zur Anzeige gebracht.
Schutz und Hilfe bei sexualisierter Gewalt in Österreich
Bei unmittelbarer Gefahr sollten betroffene Frauen den Polizeinotruf 133 anrufen. Nach einem Übergriff gilt die Empfehlung, möglichst schnell eine Krankenhausambulanz aufzusuchen. Spitäler verfügen vielfach über Ärzt:innen, die in der Verletzungsdokumentation ausgebildet sind. Außerdem stehen häufig auch Opfer- oder Gewaltschutzgruppen zur Verfügung.
Die Spurensicherung ist dann besonders erfolgreich, wenn die Dokumentation der Verletzungen und Spuren unverzüglich erfolgt. Das Opfer kann sich auch erst nachträglich für eine Anzeige entscheiden. Wichtig ist, dass keine DNA-Spuren durch Waschen des Körpers oder der Kleidung vernichtet werden. Alle potentiellen Beweismittel sind in einem trockenen Papiersack mitzuführen.
Die Untersuchung der DNA-Proben findet allerdings erst im gerichtlichen Auftrag – also nach einer polizeilichen Anzeige – statt. Die Anzeige kann nachträglich erfolgen, sofern die Frist gewahrt wird, die je nach DNA-Labor variiert (z.B. 6-12 Monate). (Quelle: Leitfaden der OEGGG – Vorgehen bei Verdacht auf Vorliegen eines Sexualdeliktes)
Weitere Anlaufstellen für Betroffene, die kostenlos und auf Wunsch auch anonym zur Verfügung stehen:
- Frauenhelpline gegen Gewalt (0800 222 555): jederzeit erreichbar, anonym und kostenlos
- Frauenberatungsstellen bei sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen
- 24-Stunden Frauennotruf der Stadt Wien (0043 171 719)
- Gewaltschutzzentren und Interventionsstelle Wien: Beratung bei sexueller Gewalt im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt
- Bund Autonome Frauenberatungsstellen bei sexueller Gewalt
Titelbild Credits: Shutterstock
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