Die zeitlichen Dimensionen der Kunst: „Bild und Zeit. Eine Theorie des Bildbetrachtens“

Wir gehen ins Museum und schauen uns ein Kunstwerk oder ein Bild an. As simple as that!, möchte man meinen. Doch gerade das Sehen von Kunst ist alles andere als einfach. Und genau darüber hat Johannes Grave, Professor für Kunstgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, ein spannendes Buch geschrieben. Ein must read für alle Kunstliebhaber:innen und Museumsbesuchende, deren Blick auf Kunst nach der Lektüre mit Sicherheit eine andere Dimension haben wird.
Die vielfältige Verstrickung des Bildes in der Zeit
Auf den ersten Blick wird der Zeitaspekt eines Kunstwerks nicht sofort augenscheinlich, da man oft meint, Kunst sei auf den Augenblick der Betrachtung beschränkt. Doch dass Bilder „auf besondere Weise in Zeitlichkeit verstrickt sind“, ist nicht nur von Grave immer wieder bemerkt worden. In seinem Buch jedoch geschickt zusammengefasst.
Werke verdanken ihre Entstehung einem bestimmten Moment, der sie mit einer bestimmten Ursprungszeit verbindet. Das ist, (kunst-)historisch gelesen, ganz klar. Doch zugleich weisen zahlreiche Bilder über diese Entstehungszeit hinaus. Sie lenken den Blick auf andere Zeiten zurück, führen historische Ereignisse aus der Vergangenheit vor Augen, gewähren aber auch Ausblicke in eine Zukunft und vertiefen sogar das Gespür für die Gegenwart.
Toussaint und „Landschaft mit dem Sturz des Ikarus“
Ein Paradebeispiel hierfür ist wohl der Essay des Autos Jean-Philippe Toussaint. In diesem erörtert der belgische Schriftsteller vor dem Bruegel-Gemälde „Landschaft mit dem Sturz des Ikarus“ die Gleichgültigkeit einer Gesellschaft angesichts der Migrant:innen, die im Mittelmeer ertrinken.
Toussaint verdeutlichte damit (sein Versuch stammt aus dem Jahre 2018), wie aktuell dieses Bild immer noch ist. Ein Ölgemälde, entstanden zwischen 1555 – 1568, dient somit als Sinnbild für eine Problematik unserer heutigen Zeit. Ein populäreres Beispiel wären die unzähligen Memes, die bestimmte Kontexte eines Bildes entnehmen und diesem Ausschnitt eine andere, gegenwärtige Bedeutung zuführen.
Erfahrungen, Erinnerungen und Erwartungen der Betrachtenden
In solchen und ähnlichen Vorgängen zeichnen sich vielfältige Spuren der Zeit in ein Bild. So wird auch das, was das Bild zu sehen gibt, modifiziert. Das Fortschreiten der Zeit macht somit etwas mit einem Bild, „so können zum Beispiel seine Rahmung, seine räumliche Situierung oder auch der soziale und kulturelle Kontext, in dem es steht, Wandlungen unterworfen sein“, schreibt Grave in seinem Buch.
Und im Sinne der Memes kann man wohl auch sagen, dass ein Bild vor allem auch Ausgangspunkt einer populären Geschichte seiner Rezeption werden kann. Doch auch damit erschöpft sich nicht das Repertoire an Zeiten, in die Bilder verstrickt sein können.
Da Bilder erst dadurch zur Geltung kommen, dass sie betrachtet werden, verbinden sich die unterschiedlichen Zeitschichten auch noch mit den Erfahrungen, Erinnerungen und Erwartungen der Betrachtenden. Dazu gehören auch die persönlichen Geschichten, die persönliche Zeit der individuellen Betrachter:innen der Bilder.
Bild und Zeit – ein Buch, das nicht nur den zeitlichen Horizont erweitert
Das Sehen bzw. das Betrachten von Kunst ist somit ein zeitlicher Prozess. Und nicht nur aus der Lektüre dieses Buches sollte klar werden, „dass wir die Art und Weise, wie wir mit Bildern umgehen, erst verstehen, wenn wir uns die Bedeutung der Zeitlichkeit der Bildbetrachtung bewusst machen.“ Und neben dem zeitlichen Aspekt, wird auch klar, dass es auch verschiedene Formen des Sehens gibt. Kunstrezeption erfordert somit nicht nur ein Verständnis von Zeit, sondern auch ein Gespür für das Sehen.
Wie schon Gotthold Ephraim Lessing in Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie bemerkte, erfordert Kunst, „nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederholter Maßen betrachtet zu werden.“ Sehen und Zeitlichkeit gehen – was die Kunstrezeption betrifft – somit Hand in Hand.
Wer also nicht nur schauen will, sondern auch danach begehrt zu verstehen, wer also dem Verhältnis von Bild und Zeit genauer nachgehen will, wird nicht umhinkommen, Graves Buch Bild und Zeit. Eine Theorie des Bildbetrachtens in die Hände zu nehmen.
Titelbild © Shutterstock
DAS KÖNNTE SIE AUCH INTERESSIEREN
Perfect Woman: Marcin Glod präsentiert sein wohl ganzheitlichstes Kunstwerk
Marcin Glod Perfect Woman: Die Suche eines Künstlers nach einer Partnerin wird zum ganzheitlichen Lebens- und Kunstprojekt.
So gut ist die John Wick-Serie: The Continental
Die John Wick-Serie The Continental ist ein Prequel rund um die Filmreihe mit Keanu Reeves. Wir haben sie uns angesehen.
Vienna Shorts Festival – und die Relevanz von Kurzfilmformaten
Dieses Jahr geht das Vienna Shorts zum ersten Mal online über die Bühne. Anlässlich der 17. Ausgabe dieses Festivals haben wir uns mit dem Format der Kurzfilme auseinandergesetzt, sowie uns auch mit dem Regie-Paar Nicola von Leffern und Jakob Carl Sauer über ihre Projekte und den auf dem Festival vorgestellten Film unterhalten.
Harlem Shuffle: Colson Whitehead besucht Wien mit seinem neuen Roman
Am 13.10. besuchte der New Yorker Schriftsteller Colson Whitehead das Wiener Konzerthaus, um seinen neuen Roman Harlem Shuffle vorzustellen. Begleitet […]
PLANET TRASH: Festival-Recycling zu Kunst, Kostümen und Dekoration
Was für dich eine alte Weinflasche, ein zerrissenes Plasktiksackerl oder eine leere Zigarettenschachtel ist, ist für das Kollektiv PLANET TRASH wertvolles […]
Re:Present: Calle Libre Festival feiert 8. Eröffnung mit besonderem Motto
Bald ist es wieder soweit! Das famose Calle Libre Street Art Festival findet zwischen 2. und 7. August zum mittlerweile […]