Der neue Roman des französischen Skandalautors Michel Houellebecq ist soeben auf Deutsch erschienen. „Vernichten“ heißt das gute Stück. In Frankreich wurde die Erstauflage in einer Rekordstückzahl von 300.000 Exemplaren gedruckt. Grund genug für uns, das Enfant terrible der europäischen Literaturszene selbst sowie sein neuestes Werk etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.
Michel Houellebecq im Blickpunkt
Michel Houellebecq ist seit Jahrzehnten die wohl schillerndste Figur am europäischen Literaturhimmel. Was er an Texten, aber vor allem an Romanen auch raushaut. Ein Skandal jagt den nächsten. Ein Bestseller löst den anderen ab. An diesem Autor scheiden sich wahrlich die Geister. Man liebt ihn oder man hasst ihn. Für die einen ist er ein Rassist, Frauenhasser und Reaktionär. Für die anderen ein literarisches Genie. Wer hat recht?
Houellebecq auf den Venediger Filmfestspielen 2014 | © Shutterstock
Michel Houellebecq oder das Spiel mit den Kontroversen
Egal was Houellebecq auch macht bzw. schreibt und sagt, der Skandal ist scheinbar vorprogrammiert. Hauptsächlich aufgrund seiner Romane wird ihm regelmäßig Rassismus, Religionsfeindlichkeit (Islamophobie) und Misogynie unterstellt. Gekoppelt wird das Ganze auch noch mit der (eher unterhaltsamen) Tatsache, dass Houellebecq selbst nur herzlich wenig unternimmt, um die Vorwürfe gegen ihn zu entkräften.
Ganz im Gegenteil! Vielmehr werden diese medial aufgebauschten Unterstellungen durch seine eigenen provokanten Äußerungen noch verstärkt. Houellebecq scheint somit ein Mensch zu sein, der noch (massenhaft) Öl in jenes Feuer kippt, in dem man ihn brennen sehen will. So fällt ihm auf eine Kritik oft „nichts Besseres“ ein, als auf seine vorher kritisierte Aussage noch eines draufzusetzen.
Dennoch ist dem Fulltime-Provokateur und dem meistgelesenen französischen Autor der Gegenwart ein illustrer Humor nicht abzusprechen. Kleines literarisches Highlight: In einem seiner Romane (Karte und Gebiet, 2010) lässt er sich z.B. selbst auftreten und porträtiert sich gleich als alkoholkranken Sextouristen der einem bestialischen Mord zum Opfer fällt.
Houellebecq nimmt die Aufregung, die um ihn gemacht wird, scheinbar nicht so ernst. Wenn man die Ereignisse rund um den Skandal-Autor etwas genauer verfolgt, scheint für Houellebecq der Skandal eher Teil einer (medialen) Strategie zu sein, um sich am literarischen Markt zu behaupten, und weniger Kundgebung seiner eigenen Meinung. Zumindest ist das eine annehmbare Ansicht. Was diese Methodik betrifft, können Parallelen zum Skandal-Regisseur Lars von Trier durchaus gezogen werden.
Michel Houellebecq – Skandalautor mit außerordentlichen literarischen Fähigkeiten
Doch das „System-Houellebecq“ funktioniert – genauso wie bei dem schon erwähnten Lars von Trier –nicht hauptsächlich über den Skandal. Von seinem Stil kann man natürlich halten, was man will. Literatur = Kunst = subjektiv. Jeder bevorzugt seine Form des Ausdrucks.
Doch so sehr sich die Skandale rund um ihn und seine Werke auch häufen, an der erzählerischen Brillanz Houellebecqs ist nicht zu rütteln. Vor allem nicht an seiner Begabung als soziologischer und kulturwissenschaftlicher Prophet in Erscheinung zu treten. Als könnte er die Zukunft vorwegnehmen oder bestimmte gesellschaftliche Umbrüche schneller als jeder und jede andere antizipieren, hat er von der ersten Veröffentlichung an, gesellschaftliche Phänomene beschrieben, lange bevor diese vom breiten Mainstream überhaupt erst wahrgenommen wurden.
Und das ist eine geradezu enorme Stärke, die ihm nicht abzusprechen ist: Dem Zeitgeist immer einen kleinen Schritt voraus zu sein.
Sexualität als Opfer des neoliberalen Kapitalismus
Schon sein erster Roman „Ausweitung der Kampfzone“, erschienen 1994, beschreibt wie kein anderes Buch zuvor, wie die Sexualität vom Kapitalismus erbarmungslos vereinnahmt wird. Als alle anderen noch von der großen sexuellen Befreiung träumten – gefaselt haben, möchte man sagen –, hat Michel Houellebecq schon richtig vermutet, dass diese nur ein weiters Phänomen ist, das unter der kapitalistischen und neoliberalen Unterwerfung zu leiden hat.
Bedeutet: Dass mit der sexuellen Befreiung die Menschen nun, neben einem kapitalistischen Kampf um die Lebensgrundlagen, auch noch verstärkt um Sexualpartner konkurrieren müssen. Während viele den Sex heiligen, indem sie diesen von wirtschaftlichen Strukturen und neoliberalen Ideologien trennen, denkt Houellebecq diese beiden Phänomene zusammen und lässt seine Figuren durch eben eine solche Welt sich entwickeln bzw. gerade daran scheitern und auch zugrunde gehen.
Die Folgeromane schlagen eine ähnliche Richtung ein, wobei in „Plattform“ (2001) diese Verzahnung des Sexuellen und des neoliberalen Kapitalismus so etwas wie einen Höhepunkt erleben darf.
Kultur und Gesellschaft spannen den Rahmen eines jeden Houellebecq Romans
Was für alle seine Werke literarische Grundvoraussetzung ist, das ist der stete Bezug auf die kulturellen und sozialen Umstände, in denen seine Figuren sich befinden. Diese sind dieselben unter denen auch wir Alltagsmenschen zu leben haben. Aber auch zu leiden, wie Houellebecq selbst vermutlich anmerken würde. Klar, ein Pessimismus ist dem französischen Baudelaire der Supermärkte, wie er auch genannt wurde, nicht abzusprechen.
Doch schreibt Houellebecq niemals einfach nur irgendwas. Er geht systematisch ans Werk und bereitet sich akribisch auf seine Romane vor, was er auch immer wieder betont. Er liest sehr viel und konsultiert oft Expertinnen und Experten. Dieses soziologische, aber auch wissenschaftliche Grundgerüst seiner Romane entfernt ihn aus der Reihe schnöder Skandal-Schreiber, denen es nur um Aufmerksamkeit geht. Um diese wird es Houellebecq natürlich auch gehen. Doch ist es gerade dieser akademische Ansatz, den man nicht außer Acht lassen darf, sollte man ihn kritisieren wollen.
Wie ein soziologischer Chirurg seziert Houellebecq ein gesellschaftliches Phänomen nach dem anderen, filetiert dieses vor unseren Augen und wirft uns eine literarisch parodistische Köstlichkeit nach den anderen hin. Pessimistische Werke, bei denen das Satirische jedoch nie zu kurz kommt. Klar ist dies eine schmale Gratwanderung. Doch ein Unterfangen, das gerade Houellebecq außergewöhnlich gut zu beherrschen vermag.
Houellebecq Romane als Parodien der Gegenwart
Im Jahr 2015 erschien das bis dahin größte Skandalbuch Houellebecqs – obwohl bis dahin alle seine Bücher um nichts weniger skandalös waren – „Unterwerfung“. Als islamophob und rassistisch wurde es bezeichnet – zusammen mit dem Autor. Doch wenn man sich emotional davon zu distanzieren vermag, dann ist „Unterwerfung“ eine mehr als präzise Studie über reaktionäre Ideologien. Vor allem darüber, wie man diese (mit ausreichend finanziellen Mitteln und mithilfe der passenden Umstände) in einer an sich offenen Gesellschaft etablieren kann.
Bedeutet im Roman: Die Linken verscherbeln aus Angst vor den Rechten ihren Einfluss an einen charismatischen muslimischen Politiker, der, als er an der Macht ist (zusammen mit seinen Hintermännern), die Gesellschaft nach islamischem Vorbild verändert.
Den ablehnenden Reaktionen und Empörungen auf diesen Roman konnte nur schwer Einhalt geboten werden. Doch die Auflösung und somit auch der Beweis für Houellebecqs Genialität und Weitsicht folgte etwas später. Denn im Grunde nimmt der Roman „Unterwerfung“ (2015) nur etwas vorweg, dass am Balkan mittlerweile schon lange Programm ist. Houellebecq hat dieses Thema in einer größeren Dimension (Frankreich) somit schon vorweggenommen. Was damals noch keiner wissen konnte. „Unterwerfung“ ist somit ein Buch von gewaltiger gesellschaftlicher Relevanz.
Das Sexuelle als Opfer der Umstände
Mit den Unterstellungen bezüglich Sexismus und Frauenfeindlichkeit verhält es sich ähnlich. Viel empört man sich darüber, wie Frauen in Houellebecqs Romanen dargestellt werden. Doch geht es in seinen Romanen im Grunde nicht um so etwas wie das Phänomen „Frau“. Houellebecq geht es immer um Figuren, die einer bestimmten Ideologie, einem bestimmten Habitat und Habitus unterworfen sind, welche diese so agieren lassen, wie sie es schließlich tun.
Wenn es z.B. um das Thema Alter geht – Houellebecq würde wohl den Begriff „körperlicher Verfall“ bevorzugen – dann geht es nicht darum, Frauen erniedrigend zu beschreiben, sondern darum ein Phänomen zu beschreiben, unter dem wir alle zu leiden haben. Männer und Frauen. Unvoreingenommene Leserinnen und Leser werden natürlich erkennen, dass Houellebecq mit allen Geschlechtern gleich kompromisslos umzugehen vermag. Was klar ist, sind wir doch alle zu gleichen Teilen Opfer desselben Systems.
Mit der Sexualität verhält es sich nicht anders. Das Begehren schwindet. Die Anziehungskraft geht verloren. Körper verfallen. Existenzieller Ekel. Abstoßung. Und alle sind davon betroffen. Natürlich ließen sich all diese Dinge auch positiver beschreiben, netter. Doch seien wir uns einmal ehrlich – wäre das die Welt in der wir leben? Nein!
Wir alle sind Opfer von unrealistischen Idealen, die wir nicht erreichen können und gehen an unseren eigenen und den gesellschaftlichen Ansprüchen zugrunde. Anstatt sich also darüber zu empören, was Houellebecq schreibt, sollte man sich vielleicht eher fragen, warum das gerade so beschrieben wird und inwiefern es nicht eben die Umstände sind, unter denen diese Figuren zu leben haben. Umstände, die schlussendlich auch unsere eigenen sind.
Vernichten – ein Titel wie eine Ansage
Was kann aber nun das neueste Buch von Michel Houellebecq? „Vernichten“ ist gestrickt wie viele seiner Bücher. Ein wohlstandsverwahrloster und sexuell frustrierter Protagonist schlittert unbekümmert und desillusioniert durch eine politische Landschaft. Wie schon bei „Unterwerfung“ passieren die gesellschaftlichen Umbrüche immer am Rande der Handlung und die Leserinnen und Leser bekommen so nebenbei und eher im Plauderton erklärt, was um den Protagonisten herum so alles passiert.
Und genau das ist das Geniale an Houellebecq, wenn man so will. Bei ihm gibt es keine Helden, die den Lesenden expertenhaft die Welt erklären. Nein, diese sind genauso unwissend und daddeln durch ein Leben, das sie nicht wirklich verstehen, doch deren Opfer sie alle sind.
Die Ausgangslage ist vielversprechend
Paul, der Protagonist im neuesten Houellebecq Roman „Vernichten“ ist Mitte vierzig, Absolvent einer französischen Eliteschule und engster Vertrauter des genialen Wirtschaftsministers Bruno Junge. Letzterer hätte Ambitionen, Präsident zu werden. Wenn nur die Umfragen bezüglich seiner Beliebtheit passen würden. Tun sie leider nicht! Bezüglich Kompetenz erzielt er zwar die höchsten und besten Werte seit Einführung solcher Umfragen. Doch entscheidet man sich schließlich dafür, einen ehemaligen TV-Star ins Rennen um die Präsidentschaft zu schicken.
Allein dieser Handlungsstrang (von denen es im Buch so einige gibt) ist schon ein gekonnter Seitenhieb auf den Politikbetrieb, dem es bei seinen Vertreterinnen und Vertretern nicht um inhaltliche Kompetenz, sondern um mediale Beliebtheit geht. Weiters kriegt auch noch das französische Pflegesystem sein Fett ab. Wir erinnern uns, die Pflege älterer Menschen ist in einer immer älter werdenden Gesellschaft von einer bestimmten Brisanz. Houellebecq schildert in „Vernichten“ den erbarmungslosen Untergang der Gesellschaft in ein Klassensystem, das nur aus Reich und Arm besteht. Und das alles wird umrahmt von den Terroranschlägen einer rätselhaften Gruppe von Cyber-Terroristen.
Die Weitschweifigkeit eines genialen Storytellers?
Vernichten ist mit über 600 Seiten das bis dato längste Buch Houellebecqs. Warum halten wir das für erwähnenswert? Weil es im Grunde etwas zu lange ist. Es ist gerade so, als hätte Houellebecq sich von einer Netflixserie inspirieren lassen und die erzählerische Langsamkeit für sich entdeckt. Vor allem lässt er sich zu viel Zeit, um die für ihn sonst so typischen Ereignisse beginnen zu lassen. Wenn er überhaupt etwas für ihn Typisches hier beginnen lässt. Denn erst ab ca. der Mitte des Buches wird die Story recht turbulent (und eines traditionellen Houellebecq würdig.) Jedoch nur, um gegen Ende wieder ein wenig abzuflachen.
Was ist das Geniale an Vernichten?
Ganz untypisch dringt Houellebecq diesmal nicht ins Herz eines gesellschaftlichen Phänomens vor oder antizipiert gar ein uns noch nicht bekanntes Phänomen. Er behandelt diese eher am Rande (Politik, Pflegenotstand). Man könnte aber auch sagen, dass der Autor gerade damit auch eine Art Spannung erzeugt, indem er uns viele interessante Wege aufzeigen will, in welche die Geschichte verlaufen könnte (z.B. was hat sein an den Rollstuhl gefesselter Vater mit den globalen Terroranschlägen zu tun?), es aber am Ende nicht tut.
Houellebecq ist bekannt und berüchtigt dafür, Dinge vorherzusagen, Phänomene zu antizipieren, die vorher niemand auf dem Bildschirm hatte. Nichts von dieser Genialität findet in „Vernichten“. Aber wer weiß, vielleicht findet man dafür eine andere.
Houellebecq und die Liebe
Ist Houellebecqs neuestes Buch eine Art Versuch, den Leserinnen und Lesern das zu verweigern, was diese sonst von diesem Autor gewohnt sind? Macht sich Houellebecq hier über uns alle lustig? Und ist dieser Wechsel des Erzählstils nicht auch eine Form von Genie? Der Autor spinnt hier viele (lose) Fäden (Politthriller, Verschwörungstheorie, Beziehungsdrama, Familiendrama usw.), die er sich jedoch nie verknoten lässt.
Die Erzählform erinnert ein wenig an Twin Peaks, eine Serie, die sich auf kein Genre festsetzen will. Und so ist auch „Vernichten“ ein Buch, dass sich den Kategorien verweigert. So gibt es hier viele Anfänge, aber nur ein Ende. Wenn man jedoch so will, dann ist dieses Ende auch schön (obwohl es traurig ist). Aber wer weiß, vielleicht ist die Message ja, dass in diesem ganzen Trubel aus Ereignissen am Ende nur jene Menschen zählen, die man liebt.
Titelbild © Mariusz Kubik, CC BY 3.0 , via Wikimedia Commons
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