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„Es geht darum, über den eigenen Tellerrand zu blicken“: Interview mit Ballmutter Monika Haider
„Freundlichkeit ist eine Sprache, die Taube hören und Blinde sehen.“ Dies dürfte auch der Grund sein, warum Monika Haider, CEO und Gründerin von equalizent, so erfolgreich darin ist, die Welt der Gehörlosen zu einer besseren zu machen. Das ist jedenfalls mein Eindruck im Gespräch mit ihr. Was mit persönlichen Berührungspunkten in ihrem Mikrokosmos begann, endete in einem weitreichenden Engagement. Neben dem Schulungszentrum etablierte sie zudem den Diversity Ball. Wir haben uns mit ihr über für viele schwer vorstellbare Hürden, positive Entwicklungen, das Bauen von neuen Brücken und einen verbindenden Ball unterhalten.
Während mir Monika Haider die Räumlichkeiten des equalizent-Schulungszentrums zeigt, kommt in mir erstmals echtes Bewusstsein über den Umfang des Projektes auf. Zuvor war es doch der Diversity Ball, mit dem ich durch unsere Kooperation in Berührung gekommen bin. Und wegen dem ich mich nun noch vertiefender mit den Themen der Diskriminierung, der Einschränkungen oder auch der Vielfältigkeit unserer Gesellschaft – und dem daraus resultierenden Gewinn für sie – beschäftige.
Immerhin sitze ich während des Gesprächs in einem der Gebäude von Europas größtem Kompetenzzentrum für Gehörlose und Gebärdensprache. Zudem ist equalizent auch größter private:r Arbeitgeber:in für gehörlose Menschen in Österreich. Mehr als ein Drittel der Mitarbeiter:innen ist selbst gehörlos und auf allen Funktionsebenen bis ins obere Management zu finden. Gelebte Inklusion.
Eine ungewohnt ruhige Geräuschkulisse. „Hier ist die Gebärdensprache die erste Sprache – auch für Mitarbeiter:innen.“ Logisch – werden hier immerhin auch gehörlose Menschen ausgebildet. Einzig die Stimme von Monika Haider ist zu hören. Bin ich doch angewiesen auf die Übersetzung einer für mich fremden Sprache. Was hier so natürlich ist, war lange fern jeglicher Selbstverständlichkeit. Und diese fehlende Selbstverständlichkeit war es auch, die Monika Haider einst dazu bewegte, alles in ihrer Macht stehende zu tun, damit gesellschaftliche Ideale Wirklichkeit werden können.
Kleiner Anfang mit großem Outcome: Monika Haiders frühe Jahre
„Ich war schon früh für das Thema sensibilisiert“, beginnt Monika Haider zu erzählen. Auf die Frage, warum sie genau das macht, was sie eben macht, und vor allem mit diesem Einsatz, antwortet sie weiter: „Weil ich eine lernbeeinträchtigte Schwester habe. Somit war ich stets mit dem Thema Behinderung sowie dem Umgang damit konfrontiert. Ich sah früh, wie die Gesellschaft darauf reagiert.“
Das äußerst sympathische und scheinbar immer fröhliche Gesicht hinter equalizent und dem Diversity Ball | © Christine Miess
Ruhig und besonnen spricht sie über etwas, das außerordentlich kränkend für Betroffene ist: „Als ich meine Schwester von der Schule abgeholt hatte – da gab es noch keinen Fahrtendienst -, haben die Leute sie immer komisch angeschaut. Damals habe ich mir geschworen, dass ich das ändern möchte. Dieser Wille ist noch immer ganz stark in mir drin. Und motiviert mich stets.“
Monika Haiders professionelle Anfänge starteten bereits nach der Matura. Während des Besuches der Sozialakademie hatte sie einen Job gesucht. „Im Gehörlosen-Institut war einer frei.“ Und so begann die Reise in einer Welt, die während der ersten Schritte Monika Haiders noch ganz anders aussah als heute. „Damals war Gebärdensprache noch nicht anerkannt. Die Kinder saßen auf den Händen, damit sie diese nicht verwenden oder gebärden. Stattdessen Lippenlesen. Alles oral. Die Lehrer:innen haben gesprochen und die Kinder mussten wahnsinnig aufmerksam hinsehen. Zusätzlich sprachen die Lehrer:innen in ein Mikrophon, dass auf die Hörgeräte übertragen wurde, um das Restgehör zusätzlich zu nutzen.“ Alles andere als ideal.
Ein Schlüsselmoment: Die Sprache der Gehörlosen
Eine Reinigungsdame brach das Schweigen der Gehörlosen. Und brachte auch Monika Haider mit einer neuen Sprache in Berührung. „In der Pause hatte ich dann eine Frau gesehen, eine Prinzessin in meinen Augen, die gehörlose Lotte. Alle gehörlosen Kinder waren zu ihr gerannt, denn sie beherrschte die Gebärdensprache. Die Kinder hangen ihr an den Händen. Und ich ebenso.“
„Von dieser Prinzessin habe ich dann die Gebärdensprache gelernt – da war ich gerade 19. Sie hat es mir auf dem Nachhauseweg, im Kaffeehaus, in jeder freien Minute beigebracht.“ Mit dem Erlernen der Sprache stieg das Interesse weiter. „Im Studium hatte ich mich dann gefragt, wie Gehörlose träumen. Sie träumen in Bildern und Gebärden. Und nicht sprechend. Das war ein weiterer Aha-Moment.“
© Christine Miess
equalizent: Barrieren überwinden und Chancengleichheit schaffen
„Vor 18 Jahren habe ich das equalizent Büro aufgebaut. Und von Beginn an haben wir mit diesem Institut die Welt auf den Kopf gestellt.“ Hier ist die Gebärdensprache die erste Sprache. Und die Lernmaterialien sind an die Möglichkeiten der Gehörlosen angepasst. „Also visuell und mit Gebärden gestaltet. Um den Bedürfnissen der Lernenden gerecht zu werden. Das empowert die Gehörlosen.“
Was so logisch klingt, braucht erstmal Engagement, Einfühlungsvermögen und Kenntnis der individuellen Umstände. Die gängigen Lernformen in der Schule brachten Gehörlosen stets Misserfolge. Dadurch waren sie nicht nur in der Gesellschaft ausgegrenzt, sondern auch ihre Möglichkeiten waren massiv limitiert – und sind es zum Teil in vielen Bereichen des Alltags noch immer. „Gehörlose haben ihr ganzes Leben lang erklärt bekommen ‚Du kannst dies nicht, du kannst das nicht. Du bist gehörlos.‘ Und so war das Lernen immer mit Misserfolgen gepflastert. Das zieht sich auch in die alltäglichen Situationen.“
Was für einen Menschen ohne Einschränkungen einfach möglich ist, stellt Gehörlose vor große Herausforderungen. Deshalb braucht es eben nicht nur den Ausbau von Bildungsmöglichkeiten, sondern auch von Unterstützung. „Im Moment ist es so, dass es viel zu wenig Dolmetscher:innen gibt. Ungefähr 125 Dolmetscherinnen kommen auf acht bis zehntausend gehörlose Menschen. In Schweden gibt es für die gleiche Anzahl 600. Aber als Gehörlose:r braucht man eben auch bei den alltäglichsten Dingen Hilfe.“
Die individuelle Realität fordert individuelle Maßnahmen
„Stell dir vor, du gehst in die Apotheke. Du erklärst der Apothekerin, wo du Schmerzen hast. Sie versteht dich. Doch wie sieht es aus, wenn Gehörlose in die Apotheke gehen? Oder, wenn sie schnell ärztliche Hilfe brauchen? Vor allem geht es dabei meist auch um etwas Privates.“ Monika Haider spannt den Bogen sehr weit und zeigt damit, in wie vielen Situationen die Einschränkung zum Tragen kommt. Jede:r von uns kennt das Problem, wenn man in einem anderen Land die Sprache nicht beherrscht. Die Grenzen der Kommunikation.
In der Bildung sieht es ähnlich aus. „Für die Schülerinnen und Schüler gibt es kein Unterrichtsfach Gebärdensprache. Wie lange haben wir Deutsch gelernt, damit wir einen Aufsatz schreiben konnten oder eine Bildgeschichte erzählen? Gehörlose bekommen so einen schlechteren Bildungshintergrund. Sie mussten viel Unterdrückung, viel Anpassung, viel Assimilation erfahren. Dem wirken wir entschieden entgegen.“
Die Gebärde für Bildung | © Christine Miess
Es hat sich jedoch bereits einiges geändert. Früher waren wenige Berufe für Gehörlose erschlossen. Hilfstätigkeiten in der Bäckerei, der Schneiderei oder einer Tischlerei. Heute bieten sich weit mehr Jobs – auch wegen des Engagements von equalizent. „Gehörlose können wirklich alles. Sie sind wahnsinnig fokussiert. Einzig hören können sie nicht. Sonst funktioniert ja alles einwandfrei.“
Gehörlosigkeit am eigenen Leib erleben
Ein weiteres Projekt lässt alle eintauchen in die Welt der Stille. Bei der HANDS UP-Ausstellung, ebenfalls initiiert und kuratiert von Monika Haider, kann jede:r Gehörlosigkeit am eigenen Leib erfahren.„HANDS UP ist eine ganzjährige, interaktive Erlebnisausstellung, die Besucher:innen behutsam und mit viel Humor auf eine spannende Reise in die Welt der Stille mitnimmt. Ziel dieser Reise ist es, Berührungsängste gegenüber gehörlosen Menschen abzubauen und Brücken zwischen der Welt der Hörenden und der der Gehörlosen zu bauen. HANDS UP ist ein Projekt von equalizent.“
Egal ob mit Freunden oder als Unternehmen, als Teambuilding-Event oder zur Sensibilisierung für ein wichtiges Thema – diese Ausstellung ist eine absolute Empfehlung. Außerdem ist HANDS UP nun auch auf Tour und kommt auch in deine Stadt. Nähere Infos dazu findest du hier.
Ein Event für alle: Der Diversity Ball 2022
Während equalizent als soziales Unternehmen strukturiert ist, hat Monika Haider den 14. Diversity Ball mittlerweile als Verein ausgegliedert. „Wir müssen den Ball finanzieren und das Geld, das überbleibt, geben wir entweder in Kinderhände oder den ukrainischen Flüchtlingen, die jetzt gerade da sind. Es gibt immer etwas, was wir damit tun können. Der Ball ändert sich aber nicht in der Philosophie.“
Und diese Philosophie ist eine klare – verbünde dich! „Es geht darum, über den eigenen Tellerrand zu blicken. Zu sehen, wie es anderen geht. Und sich mit anderen zu verbünden. Im Fall der Gehörlosen war es beispielsweise so, dass sie sich sogar lange geniert hatten, in Straßenbahnen zu gebärden. Ausgrenzung erleben viele. Und deshalb sollte man sich verbünden. Aber dabei nicht vergessen, in welchen Bereichen man für sich selbst einstehen muss. Im Prinzip ist es aber vielerorts einfacher, gut vernetzt zu sein, während ich aber auch immer klar kommuniziere, was ich brauche.“
Als Ballmutter hat Monika Haider weiterhin die Hand über den Diversity Ball. Für sie geht es einerseits darum, den Esprit und die Authentizität des Balles zu bewahren. Und andererseits auch darum, mit dem Ball aktuelle Themen anzusprechen und ihn weiterzuentwickeln. Nächstes Jahr zieht der Ball immerhin ins Wiener Rathaus. Dieses Jahr findet der Diversity Ball am 07. Mai im Kursalon statt. Nach wie vor gibt es noch Tickets auf diversityball.at/home/tickets/
Titelbild © Diversity Ball | Christine Miess
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