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Netflix galt lange, wie selten ein Unternehmen, als absoluter Corona-Gewinner. Klar, die Menschen durften nirgendwohin und haben auf ihren Sofas Dauerstellung bezogen. Da erscheint ein Abo des amerikanischen Streaming-Giganten recht naheliegend. Doch dieser Netflix-Boom scheint vorbei zu sein, wie Imre Grimm in seinem Beitrag für das Redaktionsnetzwerk Deutschland attestiert, auf den wir uns beziehen. Was ist passiert?
Gähnende Leere – Ideenarmut und Stagnation bei Netflix
Wie so oft hat der deutsche Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt, auf seinem YouTube-Kanal „Filmanalyse“, das Problem vorweggenommen und die Zukunft des Streaming-Giganten vielleicht schon recht gut erahnt. Unter den Nominierten für den besten Film des Jahres waren bei der Oscar-Verleihung 2021 auch einige Netflix-Produktionen am Start. Was viele natürlich als Erfolg verbuchten. Allem voran vermutlich Netflix selbst.
Wieder andere deuten diese Entwicklung jedoch als ein weiteres Armutszeugnis der Academy selbst. So auch Schmitt, der kein gutes Haar an den nominierten Netflix-Filmen lässt. Und das zu Recht! Denn mittlerweile sehen selbst jene – vielleicht nicht ganz so cineastisch veranlagten – Abonnenten, das ebenso. Immer öfter beschleicht diese das Gefühl „leergeguckt“ zu haben. Ergebnis: Der Zustrom an Netflix-Neukunden flaut rapide ab. Und die Konkurrenz legt zu. Warum? Mangelt es etwa wirklich an frischen Inhalten?
Am Zenit des Geschichtenerzählens
Reed Hastings, der Netflix-Gründer, hat aus seinem visionären Ansatz des neuen Fernsehens nie einen Hehl gemacht. Netflix, das war und ist Geschichtenerzählen auf einer Ebene mit den ganz Großen. Das ist „eine völlig neue Art des Erzählens“. Netflix ist Shakespeare. Und somit eine „neue Form der TV-Shows“. Das ist „der schönste Balzac-Roman“. Laut dem Gründer ist Netflix sogar „dem Kunstanspruch eines Buches absolut ebenbürtig“ Revolution!?
Der Erfolg gab Hasting schließlich Recht. Und hat Netflix nicht tatsächlich das Fernsehen auf den Kopf gestellt? Indem es dieses in seiner traditionellen und klassischen Form abgelöst hat? Wurden und werden die angesagtesten Netflix Serien nicht als die kulturellen Phänomene unserer Zeit gehandelt? Man denke nur an House of Cards, Orange is the New Black, The Queensgabit usw. Sogar (kultur)wissenschaftliche Abhandlungen gibt es darüber. Und hat Hastings seinen einst kleinen Pipi-DVD-Verleih nicht zur „kulturellen Weltmacht geformt“, worauf Imre Grimm vom RND schon hinweist. Und damit die ganz Großen Player in Hollywood erschaudern lassen. Wie David den Goliath, möchte man meinen. Netflix. Das ist eine Story wie aus Hollywood, die eben jenes Hollywood und das klassische Fernsehen an den Rand des Ruins gedrängt hat.
Corona hält die Welt in Atem – Netflix auf der Überholspur
Noch Anfang 2020 war Netflix einer der größten Gewinner der Pandemie. Die ganze first world hat sich vor den Bildschirmen versammelt und gierte nach Unterhaltung. 15,77 Millionen Neukunden konnten in dieser Zeit akquiriert werden. Rekord! Ende des Jahres 2020 überstieg die Netflix-Abonnenten-Zahl sogar die 200-Millionen-Marke. Heißt genau: 203.670.000 Abonnenten, wie auf statista.com zu entnehmen ist.
Vollbremsung bei 150 Sachen! – Was ist passiert?
Doch dieser wirtschaftliche Aufschwung scheint nun vorbei! Mittlerweile ist auch Netflix aus diesem American-Dream of success erwacht und leidet unter dem Gefühl der Ernüchterung. „Nur noch“ um die 3,97 Millionen Neukunden haben sich im ersten Quartal 2021 registriert. Ein echter Bummer! Denkt man an die 15,77 Millionen im Jahr davor. Dennoch ist es verwunderlich. Niedergeschlagenheit trotz Wachstum? Trotz Neukunden in Millionenhöhe waren sich alle über ihre Enttäuschung einig. So sehr, dass der Netflix-Aktienkurs Anfang des Jahres zwischenzeitlich sogar dramatisch gesunken war. Waren die Erwartungen zu hoch? Zu unrealistisch? Jedes Jahr mit einem neuen Rekord zu rechnen scheint mehr als utopisch.
Kenner sprechen angesichts dieser „Stagnation“ von einer Sättigung des amerikanischen Marktes. Auch die Preise wurden von Netflix erhöht und gemeinsam genutzte Konten stärker kontrolliert. Das kostete natürlich auch und schreckte potenzielle Neukunden ab. Nach den fetten Jahren, geht der Cashcow wohl plötzlich die Luft aus. Doch das liegt nicht nur an der langsam ausklingenden Pandemie. Die Krise hat mehrere Gesichter.
Wo bleibt der neue heiße Scheiß?
„Für jede Droge gilt: Willst du dieselbe Wirkung erreichen, musst du die Dosis erhöhen. Und zwar ständig. Das ist bei Seriensucht nicht anders als bei Opium. Netflix hat sich von Anfang an als popkulturelles Schlemmerbüffet für jeden Geschmack vermarktet. Doch das große Staunen über Pioniertaten wie „House of Cards“ oder „Orange is the new black“ ist längst vorbei. Alte Lorbeeren nützen nichts. Denn der Nachschub stockt.“, presst Imre Grimm die Problematik gekonnt in einen Vergleich.
Zwischen Januar und April 2020 kamen 180 Netflix Originals auf den US-Markt. Dieses Jahr waren es im gleichen Zeitraum nur noch 159. Das hat der Streamingspezialist Kasey Moore herausgefunden. Bei den Lizenzinhalten ist der Nachschub sogar noch deutlicher eingebrochen: Im Frühjahr 2020 veröffentlichte Netflix 685 eingekaufte Neuheiten. In diesem Frühjahr waren es lahme 454.
Gähnende Leere
Diese Zahlen sind, wenn man es recht bedenkt, immer noch sehr hoch. Und niemand würde sich beschweren, wenn die ausgestrahlten Formate natürlich auch (immer noch) gut wären. Aber das sind sie nicht! In den sozialen Medien beklagen sich immer mehr Nutzerinnen und Nutzer darüber, Netflix „leergeguckt“ zu haben. Doch was meinen sie damit? Es geht nicht so sehr um die Quantität, als um die Qualität. Und an letzterem fehlt es schon länger. Das hat nicht nur der Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt erkannt. Sondern mittlerweile auch immer mehr Abonnenten kommen zu genau demselben Fazit.
Netflix oder kultureller Einheitsbrei
Das Problem: Auch wenn für Netflix auf der ganzen Welt gedreht wird. An den unterschiedlichsten Orten und von den unterschiedlichsten Menschen. So sieht am Ende des Binge Watching ein Netflix-Film oder -Serie, leider immer öfter so aus, wie alle Netflix-Produktionen davor. Ästhetisch ähnlich konform und inhaltlich einheitlich seicht. Somit bietet der US-Streaming-Gigant mittlerweile nicht viel mehr, als eine normative Monokultur nach Massengeschmack.
Doch wenn es um das Erzählen von Inhalten geht, dann sollte man als Erzähler oder Erzählerin „wirklich etwas zu erzählen haben – und in der Lage sein, eine eigene, unverwechselbare Welt herzustellen. Sonst ist es für den Zuschauer einfach nur eine weitere Tapete, die man anknipst.“, so Henk Handloegten, einer der Regisseure der Erfolgsserie „Babylon Berlin“ in einem Interview mit der haz. Eine Gefahr, die durchaus absehbar ist. Denn eine Netflix-Serie ist leider immer mehr nur noch das: eine weitere Netflix-Serie. Sind die Zeiten der handverlesenen Serien, die euphorisch gefeiert wurden vorbei?
Kulturelle Verödung – die normative Kraft des Immergleichen
Das Problem an der Sache orten viele in der normativen Kraft des Immergleichen. Hunderte von Filmen und Serien (an die 5.000) zur Auswahl. Ein vermeintliches Überangebot das jedoch gefühlt, immer nur dasselbe transportiert. Sucht man auf Netflix nach Klassikern der Filmgeschichte oder gar nach Horizont erweiternden Werken, sucht man vergebens, wie der Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt bemerkt.
Was man aber findet: Die scheinbar ewige Wiederkehr desselben, wie es Nietzsche vermutlich sehen würde. Netflix hat es geschafft, seine Inhalte zu normieren. So gut, dass ein fader Geschmack der Einheitlichkeit entsteht. Mit diesem Verfahren zwingt Netflix seinen Kundinnen und Kunden die immer gleichen Lebensentwürfe auf. So entzaubert der Streaming-Riese schlussendlich das individuelle Begehren, indem es dieses einer unausweichlichen Norm unterwirft, wie es der Philosoph Slavoj Žižek in Anlehnung an Adorno und Lacan vermutlich zusammenfassen könnte.
Unter kapitalistischen Vorzeichen betrachtet, ist das ein wahres Wunderwerk. In kultureller Hinsicht hingegen ein echter Horror. Die Kulturindustrie lässt grüßen. Und daher erscheinen die Angebote auf Netflix oftmals als reiner „Verblendungszusammenhang“, der die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse naturalisiert und somit als sozialer Kitt operiert. Jemand der mit dem Status Quo unzufrieden ist, oder nach transformatorischen Möglichkeiten (des Geistes) sucht, wird hier nicht fündig. Aber dafür gibt es auch andere Anbieter. Insofern man noch genug geistige Energie aufbringen kann, um nach diesen auch zu suchen.
Fazit: Mainstream macht Müde
Doch um diese geistige Energie aufzubringen hat man vielleicht immer weniger Kraft. Schier erdrückend scheint das Überangebot des Immergleichen, so dass man am Ende den Horizont der Alternativen gar nicht mehr erblicken kann. „Choice Fatigue“ nennt sich diese Trägheit angesichts eines Überangebots. Ein Leid, das wohl jedem bekannt ist, der nach einem Netflix-Staffelfinale (geistig und intellektuell) unbefriedigt nach dem nächsten mittelmäßigen Angebot sucht. Und sich leider frustriert durch die quantitativ monströsen Vorschlagslisten scrollen muss. Mit dem stillen Verlagen nach Qualität.
„Paradox of Choice“ (das Paradoxon der Wahlmöglichkeiten), scheint sich hier als Lösung anzubieten – wie es auch Imre Grimm in seinem Beitrag am Ende erwähnt. Denn Menschen sind glücklicher, wenn sie aus einer geringeren Auswahl wählen können. Das ist eine neurowissenschaftliche Tatsache. Denn ein Überangebot überfordert. Fazit: „choice isn’t always good, and more choices can actually reduce sales.”, bringt es Roger Dooley auf den Punkt. Somit birgt eine (zu) große Auswahl auch genauso große Probleme mit sich. Diese ist oft überfordernd, unbefriedigend und zeitraubend. Es ist einfach gesagt frustrierend, sich durch ein Überangebot zu klicken und auf nichts anders zu stoßen, als auf die scheinbar ewige Wiederkehr desselben.
Titelbild Credits: Shutterstock
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