Überall sind wir konfrontiert mit Sex. Obszöne Nacktheit. In Filmen. Im Internet. In der Werbung. Everywhere. Doch wer annimmt, die Sexualisierung des Alltags mache auch die darin lebenden Menschen zu promiskuitiven Dauerschnaxlern, der irrt gewaltig. Ganz im Gegenteil. Überall gibt es Sex zu sehen. Doch auf die praktische Ausübung haben immer weniger Menschen Lust. Ein neuer Trend? Jungfräulichkeit als Lebensstil?
Das Zölibat-Syndrom: immer mehr Menschen haben keine Lust auf Sex
Japan hat ein Problem. Die unter 40-Jährigen scheinen das Interesse an konventionellen Beziehungen verloren zu haben. Millionen von Menschen gehen nicht einmal mehr miteinander aus. Und immer mehr haben einfach keine Lust mehr – auf Sex. Für die japanische Regierung ist dieses so genannte „Zölibat-Syndrom“ gelichbedeutend mit einer nationalen Katastrophe. Denn Japans Bevölkerungszahl sinkt rasant.
Innerhalb von zehn Jahren ist die dortige Bevölkerung von 128 auf 126 Millionen zurückgegangen. Ein Rückgang, der sich stetig beschleunigt. Allein im Jahr 2019 sank die Zahl der Einwohner um über eine halbe Million Menschen. Der Hauptgrund? Die niedrige Geburtenzahl. Noch nie seit 145 Jahren sind in Japan so wenige Kinder geboren worden wie im Jahr 2019. Die 126 Millionen verbleibenden Einwohner werden bis 2060 voraussichtlich um ein weiteres Drittel sinken.
Traurige Rekorde – Singles auf dem Vormarsch
Die Zahl der Singles in Japan hat ein Rekordhoch erreicht. Eine Umfrage ergab, dass 61% der unverheirateten Männer und 49% der Frauen im Alter von 18 bis 34 Jahren keinerlei romantische Beziehung hatten. Ein Drittel der unter 30-Jährigen hatte überhaupt noch nie ein Date. Obwohl Japan ein Land frei von religiöser Moral ist, scheint Sex dort vollkommen uninteressant zu sein. 45% der Frauen im Alter von 16 bis 24 Jahren haben sogar überhaupt kein Interesse an einem sexuellen Kontakt oder verachten diesen sogar.
Es ist „traurige“ Gewissheit: Japans unter-40-jährige sind nicht mehr dazu bereit, sich zu vermehren, aufgrund eines obskuren Pflichtbewusstseins. Wie das bei der Nachkriegsgeneration noch der Fall gewesen ist. Der Sinn einer Beziehung ergibt sich dieser neuen Generation der freiwillig Zölibatären nicht mehr. Vor allem, weil Beziehungen so schwer geworden sind.
Minenfeld Ehe – traditionelle Beziehungsmodelle zunehmend unattraktiv
Das japanische Ehemodell ist zu einem „Minenfeld unattraktiver Entscheidungen geworden“. Die Männer sind weniger und weniger karriereorientiert und daher auch weniger „zahlungsfähig“. Vor allem, weil die lebenslange Arbeitsplatzsicherheit nachlässt. Eine Beziehung und vor allem eine Familie kostet immer noch viel Geld.
Auf der anderen Seite sind aber auch die japanischen Frauen unabhängiger und ehrgeiziger geworden. Ein Leben als Hausfrau ist zunehmend uninteressant. Trotzdem bleiben in Japan die konservativen Einstellungen bestehen. Beteuerungen der Regierung, etwas an diesem veralteten Modell ändern zu wollen, wurden bis her nicht umgesetzt. Die reaktionären Idealvorstellungen bleiben bestehen. Obwohl immer weniger Menschen keine Lust mehr darauf haben. Japans unerbittlicher Work-Load-Wahnsinn macht es Frauen geradezu unmöglich, Beruf und Familie in Einklang zu bringen.
Ein weiterer Widerspruch mit den Grundvorstellungen: Niemand kann sich mehr Kinder leisten, wenn nicht beide Elternteile arbeiten gehen. Ein Teufelskreis. Und so entfernen sich die Menschen voneinander und verkapseln sich in sich selbst. Es gibt keine Intimität mehr, nur noch einfach oder sofortige Befriedigung in Form von Gelegenheitssex. Wenn überhaupt.
Hauptschuldig dafür sind die üblichen Verdächtigen aus dem Technik-Bereich: Online Pornos und VR-Freundinnen, sowie Anime Cartoons. Oder sexuelle Lust und Begehren fallen gleich vollkommen flach und werden einfach durch eine andere Freizeitbeschäftigung ersetzt.
Freiwillige Enthaltsamkeit
Doch wer jetzt meint, dieses zölibatäre Verhalten treffe nur auf Loser zu, der irrt. In Japan ist dieses Single-Dasein meist bewusst gewählt. Vor allem deshalb, weil die traditionellen Vorstellungen einer japanischen Ehe (der Mann arbeitet bis zum Umfallen und die Frau hütet die Kinder) immer unattraktiver werden.
Die immer emanzipierteren Japanerinnen, sehen ihre Zukunft lieber in der Karriere als hinter dem Herd. Verständlich. Aber auch die Männer haben keine Lust mehr, sich tot zu arbeiten, um alleine Frau und Kind(er) zu erhalten. Zwei vorgeschrieben Extreme, auf die niemand mehr Lust hat. Und so hat man gleich überhaupt keine Lust mehr, da diese Rollenbilder immer noch greifen.
Somit ist die Ablehnung des Sex vielleicht auch gleich ein Protest an Japans gesellschaftlichem System. Die Kompromisse, die man für eine Beziehung eingehen muss, scheinen allgemein unattraktiv. In Japan waren laut einer 2015 veröffentlichten Studie rund 43 Prozent der jungen Leute (zwischen 18 und 34 Jahren) noch Jungfrau.
Japan und darüber hinaus
Bietet Japan einen Einblick in unsere eigene Zukunft? Viele der Veränderungen dort finden auch in anderen fortgeschrittenen Ländern statt. Im Allgemeinen heiraten die Menschen immer später oder gar nicht. Die Geburtenraten sinken. Die Zahl der Singlehaushalte steigt. Und Sex?
Immer weniger Sex
Die Zahlen sprechen Bände. Allein 2019 gaben einer von drei Männern im Alter zwischen 18 und 24 Jahren an, in diesem Jahr keine sexuellen Aktivitäten gehabt zu haben. Etwas Ähnliches hat sich auch bei Männern und Frauen zwischen 25 bis 34 Jahren ereignet. Auch diese demographische Gruppe hat den Rückgang ihrer sexuellen Aktivitäten, in einer Studie der American Medical Association bestätigt.
In den USA zum Beispiel haben Menschen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren – einer aktuellen Erhebung zufolge – weniger Sex als Gleichaltrige in früheren Jahrzehnten. Die Zahl der Menschen, die keinen Sex haben, wird somit immer größer und größer. Doch sind es vor allem junge Männer in ihren 20ern, die enthaltsam leben. Statistisch gesehen hatte fast jeder Vierte (23 Prozent) der 18 bis 29-Jährigen im vergangenen Jahr überhaupt keinen Sex. Vor zehn Jahren lag dieser Durchschnittswert noch bei 19 Prozent. Im Jahre 1989 sogar nur bei 14 Prozent.
Koitus – Unterschiede zwischen Männern und Frauen
Ein gravierender Unterschied zeigt sich vor allem zwischen Männern und Frauen. Vor allem viele junge Männer (zwischen 18 bis 30 Jahren), gaben an, das vergangene Jahr sexlos verbracht zu haben. Rund 28 Prozent. Gleichaltrige Frauen kommen hier nur auf 18 Prozent. Von den 30 bis 39-Jährigen dieser Studie gaben wiederum nur sieben Prozent der Befragten an, ein Jahr lang keinen Sex habt zu haben. Warum wird Sex immer unattraktiver?
Gründe für Enthaltsamkeit
Zurückzuführen sind diese hohen Zahlen auf unterschiedliche Faktoren. Ein Punkt ist, dass sich z.B. junge Amerikaner und Amerikanerinnen immer später fest binden. Weiters leben immer mehr Menschen zu Hause bei Ihren Eltern. Was die sexuelle Aktivität und vor allem die Möglichkeit darauf gravieren einschränkt. Arbeitslosigkeit spielt natürlich eine Rolle. Wer keiner geregelten Arbeit nachgeht, lebt auch seltener in einer festen Beziehung.
Ebenso ein wichtiger Punkt ist, dass viele junge Menschen mit ihrem Körper unzufrieden sind. Vor allem aufgrund der in den Medien propagierten Schönheitsideale. Und wer sich nackt nicht wohlfühlt, hat auch weniger Lust auf Sex. Darüber hinaus werden viele Menschen zunehmend mit anderen Problemen geplagt.
Der Rückgang dieser Sex-Zahlen wird aber auch – und das vor allem – auf die neuen Formen der Alleinunterhaltung zurückgeführt. Videospiele. Soziale Medien. Aber auch die gemeinsame Zeit vor Netflix und Co sind die ultimativen Sex-Killer. Mittlerweile bietet unsere Kultur eine scheinbar infinite Auswahl an Tätigkeiten, die man alleine und gemeinsam tun kann, ohne sich dabei koital näher kommen zu müssen. Die sozialen Medien, Konsolen- und PC-Games, aber auch Streaming-Plattformen lassen immer weniger Raum, in dem sich sexuelle Aktivitäten initiieren können.
Die Sex-Kultur ist im Wandel. So sei es früher z.B. „normal“ gewesen, im High-School-Alter zumindest einmal Sex gehabt zu haben. Stichwort American Pie. Doch das ist heute schon lange nicht mehr der Status Quo. Zudem leben in den USA etwa 60 Prozent der Erwachsenen unter 35 Jahren ohne einen (Ehe-)Partner.
Sex – eine Definitionssache
Doch für einige ist der Rückgang dieser Zahlen nur eine Sache der Perspektive. So auch für den Hamburger Sexualtherapeuten Friedhelm Schwiderski. Dieser hat nämlich eine alternative Sicht auf diese Zahlen.
„Sexlosigkeit muss man differenzieren. In dieser Erhebung wird beispielsweise nur der sexuelle Kontakt mit anderen Menschen erhoben.“ Selbstbefriedigung, angeregt durch das Internet, wird hier ausgeklammert. Und der Pornokonsum im Internet, Cyber Sex und etc. sollten durchaus berücksichtigt werden, wenn es um das Thema Sex geht. Denn „das Angebot ist riesig. Sex verlagert sich in die virtuelle Welt.“, meint Schwiderski.
Die Frage, wie Sex definiert wird, ist da natürlich eine wichtige. Bezeichnet Sex, frei nach Wikipedia, „die praktische Ausübung von Sexualität als Gesamtheit der Lebensäußerungen, Verhaltensweisen, Empfindungen und Interaktionen von Lebewesen in Bezug auf ihre Geschlechtlichkeit.“ So schließen viele der Studien zu diesem Thema, eine Vielzahl alternativer Sexualpraktiken – wie auch Masturbation (Sex mit sich selber) – aus ihren Erhebung aus.
Sexlosigkeit – Geschlechtliche Unterschiede
Ein weiteres „Problem“ dieses Zölibat-Trends ist, dass junge Frauen mittlerweile viel selbstbewusster und klarer signalisieren, was sie sich im Bett wünschen. Und fordern das auch ein. Das kann junge, unerfahrenere Männer natürlich verunsichern. Die Flucht in platte und sexuell einfachere Alternativen im Internet ist da recht naheliegend. Dort sind die Frauen schließlich immer willig und „nerven“ den Mann nicht mit ihren eigenen Bedürfnissen.
Sexlosigkeit – kein Problem von Singles allein
Sexlosigkeit ist deshalb nicht nur bei Singles ein Problem. Auch in einer festen Partnerschaft ist es ein verbreitetes Phänomen, weiß der Therapeut aus seiner Praxis: „Mein Eindruck ist, dass es bei sexuellen Problemen in der Beziehung fast nie um Sex geht, sondern mehr um das Miteinander in der Partnerschaft.“
Alle erdenklichen Spannungen oder Schwierigkeiten können eine Auswirkung auf die Erotik haben. So könnte dem Problem Sex- und Lustlosigkeit im Grunde auch ein gestörter Umgang mit der eigenen Intimität und mit dem eigenen Umgang mit dem Körper, aber auch mit dem Umgang eines anderen Körpers, zu Grunde liegen. Denn viele Menschen haben, was das betrifft, eindeutig Nachholbedarf. Sie müssen erst wieder erlernen, wie es ist, sich selbst zu spüren, aber auch den anderen als empfindsames Wesen wahrzunehmen und diesen nicht mehr nur als objektivierten masturbatorischen Gegenstand zu denken. Das gilt natürlich für Männer wie Frauen.
Titelbild Credits: Shutterstock
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