Ali Smiths Buch „Gefährten“: ein feministischer Corona-Fiebertraum

Realität und Traum verschwimmen. Gegenwart und Vergangenheit lösen sich ineinander auf. Und Corona schlägt noch wie wild um sich. Von schwurbelden Nachbarn, der Macht der Wörter und Imagination. Ali Smiths neues Werk „Gefährten“ ist eine surreale Halluzination. Lesenswert!
Gefährten: passionierte Künstlerin mit Hund
Sandy, eine Frau in ihren mittleren Fünfzigern, ist eine passionierte Künstlerin und eine hingebungsvolle Einsiedlerin. Gerade hat sie es geschafft — während des Lockdowns — eine enge Verbindung zu Shep herzustellen, dem Hund ihres im Krankenhaus liegenden Vaters. Dieser ältere Hund mit leichter Arthritis ist zu ihrem Begleiter geworden.
Und Sandy hat die Kunst des Zuhörens bei ihm gelernt. Abgesehen von Shep benötigt sie lediglich Bücher, um „zu leben“. Die Zufriedenheit ihres Lebens wird jedoch von einem Anruf gestört.
Anruf bringt mysteriöse Geschichte ins Rollen
Martina, eine ehemalige Bekannte aus der College-Zeit, kontaktiert Sandy und teilt ihr eine eigenartige Geschichte mit. Als Mitarbeiterin eines Museums hat Martina eine mittelalterliche Truhe auf eine Reise ins Ausland begleitet. An der Grenzkontrolle gerieten die Dinge jedoch außer Kontrolle.
Sie wurde ohne Pass und Handy in einen Raum gesperrt, wo ihr eine geheimnisvolle Stimme ein Wort zuraunte – oder waren es vielleicht zwei? „Curfew“ (Ausgangssperre) oder doch „Curlew“ (Brachvogel)? Dieses Wortspiel muss entschlüsselt werden, und Sandy ist dafür prädestiniert, meint Martina, da diese bereits in der Vergangenheit ihr Geschick mit Worten bewiesen hat. Insbesondere bei der Interpretation von Gedichten in einem Uni-Kurs, bei dem sie letzterer behilflich war.
Fiebertraum oder Wirklichkeit
Von da an wird es geradezu absurd. Wirklichkeit und Traum verschwimmen. Hat Sandy Corona und das sind die Nebenwirkungen, in Form von Halluzinationen? Plötzlich stehen Martinas Kinder vor ihrer Tür und bezichtigen sie, ihre Mutter manipuliert zu haben. Denn diese ist seit dem Anruf nicht mehr wiederzuerkennen – weil sie auf einmal glücklich zu sein scheint. Kurz darauf sind sie ihr jedoch plötzlich dankbar, weil ihre Mutter auf einmal eben glücklich ist. Dem nicht genug quartieren sich die Corona-Leugner auch noch in ihrem Haus ein.
Sandy ergreift die Flucht. Was in einer märchenhaften Passage über eine Schmiedin mündet. Dieser Handlungsstrang geht zurück ins Mittelalter, zum Schicksal eines streunenden Mädchens, das von einer starken Frau aufgenommen und eben zur Schmiedin ausgebildet wird. Nur um anschließend in einer patriarchalen und gewalttätigen Welt zur Flucht gezwungen zu werden.
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Ist das die imaginierte Schmiedin der Truhe vom Anfang der Geschichte? Imaginiert oder doch historisch den Tatsachen entsprechend? Oder transformiert Sandy nur ihre eigene Biografie in diese Geschichte hinein. Ihre Flucht vor der Okkupation ihres Hauses? Wahrheit oder Lüge? Man weiß es nicht!
So oder so, Wahrhaftigkeit ist bei Ali Smith auf alle Fälle durchgehend gegeben. Und dann wären da noch die Worte: curfew oder curlew. Das eine hat mit dem Eingesperrtsein zu tun. Das andere bezeichnet ein Vogel. Was ist frier als ein Vogel? Ein Vogel, der auch viel mit der Geschichte der Schmiedin zu tun hat. Worte, die auch das Leben von Sandy versinnbildlichen.
Ali Smiths Gefährten: ein Fazit
Die einzelnen Geschichten sind nur lose miteinander verbunden, wenn man überhaupt von einer Verknüpfung sprechen kann. Und genau diese Losigkeit bietet unendlich viel Raum für Interpretation und eröffnet Räume der Imagination. Gefährten ist eines jener seltenen Werke, das man ewig weiterlesen könnte, federleicht und doch auf hohem literarischem Niveau. Eine Gratwanderung, die eine Meisterleistung ist. Gesäumt von stilistischer Verspieltheit.
Vor allem sprachlich zieht einem die Geschichte in ihren Bann, sodass man gar nicht mehr davon loskommt. Wie von einem Fiebertraum. Erinnerungen werden abgelöst von Visionen. Gedanken verstricken sich in Geschichte. Aktualität schmiegt sich an Vergangenes. 2022 wurde Ali Smith mit dem österreichischen Staatspreis für europäische Literatur ausgezeichnet. Kein Zweifel daran, dass Smith eine Meisterin ihres Fachs ist. Nachzulesen in Gefährten.
Titelbild © Pixabay
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