Alles für Klicks: Boulevardmedien überschreiten gefährliche Grenzen
Gestern Abend – am 2. November 2020 – wurde Wien Opfer eines schrecklichen Terroraktes. Die Wiener Innenstadt, in der wir uns bislang immer sicher fühlten, wurde zum Tatort. Hunderte Menschen liefen um ihr Leben oder versteckten sich in Lokalen. Während die ganze Stadt in Panik verfiel, nutzten oe24.at und die Kronenzeitung die Gelegenheit, sich mit Livestreams und Aufnahmen zu profilieren und jeden Moment des Terrors ins Netz zu stellen. Unter den Szenen auch die Ermordung eines Passanten.
Oe24 geht über Leichen
Stell dir vor, du bist ahnungslos auf der Suche nach Informationen. Du willst wissen, was passiert ist. Ob du dich selbst sicher fühlen kannst. Wo deine Freunde und Familienmitglieder sind. Dabei landest du auf pietätlosen Plattformen wie oe24, die den Terror live übertragen.
Die blutenden, verletzten oder auch toten Opfer könntest du dieses Mal allerdings kennen. Aber ganz egal, denn es zählen nur die Klicks. Das ist der Konsens unseriöser Medien. Sie „wissen“ und berichten zwar alles immer viel früher als das Innenministerium, ruinieren dabei aber Existenzen. Sie gehen wortwörtlich über Leichen.
Nochmal: KEINE Videos und Fotos in sozialen Medien posten, dies gefährdet sowohl Einsatzkräfte als auch Zivilbevölkerung! #0211w
— POLIZEI WIEN (@LPDWien) November 2, 2020
Umfassender Persönlichkeitsschutz der Betroffenen
Nicht nur für Angehörige sind solche Bilder schockierend, sondern auch für unmittelbar Betroffene. Während in der Rechtsprechung darüber diskutiert wird, wie weit der Persönlichkeitsschutz bereits verstorbener Personen reicht, respektieren oe24 und Kronenzeitung diesen nicht einmal zu Lebzeiten der Terroropfer.
Der Persönlichkeitsschutz wird in zahlreichen Gesetzesbestimmungen, wie etwa in §§ 7 ff MedienG oder in § 78 Urheberrechtsgesetz, normiert und verbietet unter anderem die öffentliche Verbreitung solcher Bilder und Videos. Obwohl JournalistInnen durch widerrechtliche Veröffentlichungen häufiger in Konflikt mit dem Gesetz geraten, scheint es den genannten Medien gerade in diesen vulnerablen Momenten gleichgültig zu sein.
Ich will nur darauf hinweisen, dass die #Krone der #OE24 gestern um nichts nachstand.
Deren Berichterstattung war ebenso von Livebildern und Gerüchten zerfressen.
So impft man Gewalt in die Köpfe, so erzeugt man Abstumpfung.
Keine Presseförderung mehr für diese Blätter!#Wien— Gerald Kitzmüller (@GKitzmueller) November 3, 2020
Unzensierte Aufnahmen
Unzensiert und ohne Trigger-Warnung dürfen jetzt auch Kinder jede Terrorszene im Netz mitverfolgen. Was man bislang nur aus „Terrorstaaten“ kannte, ist nun auch in Österreich angekommen.
Obwohl Medieninhaber anschließend zu hohen Summen Schadenersatz und zur Löschung des Bild- und Videomaterials verpflichtet werden, ändert dies nichts an den bereits erlittenen psychischen Schäden. Was hat ein Betroffener von ein paar Euro, wenn er vor der gesamten Bevölkerung entblößt wurde.
Boulevard. Und Boulevard. pic.twitter.com/mjyDFY7nq2
— Armin Wolf (@ArminWolf) November 3, 2020
Fake News und falsche Verdächtige
Auch Falschmeldungen kursierten am gestrigen Abend auf diversen Plattformen. Es wurde von Terror in jedem Wiener Gemeindebezirk gesprochen. Von Geiselnahmen und bereits etlichen Toten. Menschen, die einfach nur helfen wollten, wurden als Terroristen verdächtigt.
Aufnahmen, in denen zwei türkischstämmige Männer einen verletzten Polizisten wegtrugen, erweckten durch die von oe24 veröffentlichten Aufnahmen den Anschein, es würde sich um die Terroristen handeln. Deswegen stehen Medien in solchen Situationen in der Verantwortung, Ermittlungsergebnisse abzuwarten, um den Persönlichkeitsschutz zu wahren und niemanden fälschlicherweise des Terrors zu bezichtigen.
Auch die Vermutung, es handle sich um einen 30-jährigen Flüchtling, wurde widerlegt.
Zwei türkischstämmige junge Männer haben sich während des Terroranschlags in #Wien heldenhaft verhalten: Recep Tayyip Gültekin und Mikail Özen, beide MMA-Kämpfer, haben einen verletzten Polizisten aus dem Kugelhagel gerettet. #Heroes #Terror #ViennaAttack pic.twitter.com/Oq7W5jEmBm
— Jürgen Thiede ?????? (@ThiedeJurgen) November 3, 2020
Petition gegen oe24 gestartet
Mittlerweile sind etliche Beschwerden beim Presserat eingelangt. Die Videoaufzeichnung der Liveübertragung ist allerdings nach wie vor abrufbar. BürgerInnen rufen nun dazu auf, die Petitionen von openpetition oder #aufstehn gegen diese absolut unethische Vorgehensweise des oe24 zu unterzeichnen. Auch gegen die Kronenzeitung gibt es eine Petition. Es bleibt zu hoffen, dass die Verantwortlichen sich ihrer Schuld bewusst sind. Denn Menschenleben sind mehr wert als Klicks.
Es haben bereits einige Unternehmen wie Spar und Billa einen Werbeboykott gegen oe24 ausgesprochen. Hoffentlich folgen noch weitere.
Titelbild Credits: Screenshot / youtube oe24.tv
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Wer kennt das nicht? Man feiert eine gute Party, bis kurzerhand die Polizei aufkreuzt und spätestens beim dritten Besuch Anzeige erstattet, oder die Party auflöst. Im privaten Kontext erscheinen Gesetzeslage und Strafen noch tragbar, im gewerblichen Kontext sieht die Sache jedoch ganz anders aus. ClubbetreiberInnen, sowie VeranstalterInnen sehen sich in Großstädten mit einer Vielzahl an Problemen konfrontiert, die einerseits Kosten explodieren lassen, oder andererseits Events komplett unterbinden.