Die Erhebung von Daten ist einer der Grundpfeiler unserer modernen Welt. Blöd dabei ist nur, dass diese Erhebungen die Hälfte der Weltbevölkerung systematisch ignoriert. Sprich: Frauen. Das bedeutet, dass sich die Welt hauptsächlich an männlichen Bedürfnissen orientiert. Die Autorin Caroline Criado-Perez macht diese, teilweise auch lebensbedrohlichen Missstände mit eindrucksstarken Beispielen sichtbar – der sogenannte Gender Data Gap.
Der Gender Pay Gap ist mittlerweile so ziemlich für jede:n ein Begriff. Frauen verdienen – bei gleicher Qualifikation (!) – durchschnittlich um etliches weniger als Männer. Doch das liebe Geld ist nur ein kleiner Teil der Diskriminierung, die Frauen weltweit erfahren müssen. Das strukturelle Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern ist oftmals so tief verankert, dass es einem gar nicht wirklich bewusst ist.
Aus diesem Anlass hat die Autorin Caroline Criado-Perez ein Buch geschrieben. Um genau jene Unsichtbarkeit der Frauen wieder sichtbar zu machen. Denn das Wissen der Menschheit – basierend auf Datenerhebung – ist leider nicht das Wissen über alle Menschen. „Wissenschaftliche Daten werden nämlich seit Jahrhunderten hauptsächlich von Männern und über Männer gesammelt. So entstand eine Wissenslücke über Frauen – die die Grundlage für systematische Diskriminierung ist.“, bringt es Nadja Ayoub in Bezug auf den Gender Data Gap auf den Punkt.
Wir von WARDA haben einige der eindrücklichsten Beispiele dieses Ungleichgewichts für euch gesammelt. Hier unsere Top-Auswahl an Bereichen, die für Frauen leider im praktischen Sinne, der ultimative Flop sind.
Diagnosen und Medikamente: Gender Data Gap als Gefahr für die Gesundheit
Die Medizin, man muss es leider sagen, orientiert sich hauptsächlich am männlichen Körper. Das führt zu einer ganzen Palette an Datenlücken über Frauen im medizinischen Bereich, da laut Criado-Perez Diagnoseverfahren größtenteils an männlichen Körpern entwickelt wurden. Fatales Ergebnis (für Frauen): „Frauen werden in diesem System chronisch falsch verstanden, falsch behandelt und falsch diagnostiziert.“ Auch als Yentl-Syndrom bekannt.
Forschungen haben z.B. gezeigt, dass Herzinfarkte bei Frauen oft übersehen werden. Der Grund? Medizinische Lehrbücher listen als typische Symptome hauptsächlich solche, die vor allem bei Männern auftreten – Schmerzen in der Brust und im linken Arm. Bei jüngeren Frauen sind jedoch andere Symptome häufiger, nämlich Bauchschmerzen, Kurzatmigkeit, Übelkeit und Müdigkeit. Da Lehrbüchern diese Symptome als „atypisch“ vermitteln, bringen Ärzt:innen diese oft nicht gleich mit einem Herzinfarkt in Verbindung.
Und damit nicht genug. In ihrem Buch listet die Autorin seitenweise Beispiele aus der Medizin auf. Ob Diagnoseverfahren, die bei Frauen weniger zuverlässig sind als bei Männern. Oder Medikamente, die bei Frauen nicht so effektiv wirken oder gar schaden, weil sie ja an einem männlichen Körper getestet wurden. Warum? Weil der männliche Körper bis heute als Prototyp für den Menschen gilt. Immer noch! Daher passieren in der Behandlung von Frauen Fehler, die verständlicher Weise bei Männern nicht passieren. Fehler, die leider auch lebensbedrohlich sein können.
Auch beim Drogenkonsum sind Nebenwirkungen und unerwünschte Effekte für Frauen häufiger, wie ihr in unserem Beitrag nachlesen könnt.
Das Büro oder die Kältekammer des Schreckens
Nicht ganz so gefährlich wie eine falsche Diagnose oder eine fehlerhaft dosierte Medikamentenzufuhr. Aber dennoch extrem unangenehm. Die Temperatur in Büroräumen. In den 1960er-Jahren wurde in den USA eine empfohlene Durchschnittstemperatur ermittelt, an denen sich Büros orientieren. Diese empfohlene Temperatur errechnete man anhand der Stoffwechselrate eines durchschnittlichen 40-jährigen Mannes von 70 Kilogramm Körpergewicht. Die Stoffwechselrate jüngerer Frauen unterscheide sich jedoch davon. Büros mit der ermittelten Temperatur sind Criado-Perez zufolge für Frauen um fünf Grad zu kalt.
Toiletten – verlängerte Wartezeiten mit System
Auch das Klischee, Frauen bräuchten länger am Klo, versucht die Autorin gekonnt zu entkräften. Denn Schuld an der lästigen Warterei sind nicht die Frauen per se, sondern die Tatsache, dass die Architekten im öffentlichen Raum genauso viele Quadratmeter für männliche Waschräume vorsehen wie für weibliche. Trotz Gleichheit ist dies jedoch zu kurz gedacht. Genderneutral ist nicht immer gleich gendergerecht. Per se hat das alleinig mit dem Gender Data Gap zu tun, sondern ignoriert auch generell die Lebensumstände von Frauen.
Denn Frauen benötigen naturgemäß mehr Zeit auf der Toilette – da sie unter anderem, im Vergleich zu den Männern, nicht auf Urinale zurückgreifen können. So können Herrentoiletten pro Quadratmeter von mehr Personen gleichzeitig benutzt werden als Damentoiletten. Eine gleich große WC-Fläche ist somit gar nicht mehr gleich.
Wichtiger Punkt: Und selbst wenn Herren- und Damentoiletten die gleiche Anzahl an Kabinen hätten, wäre das Problem nicht gelöst. Denn Frauen brauchen für die Toilettenbenutzung bis zu 2,3-mal so lange wie Männer. Warum? Sie stellen die Mehrheit der älteren und körperlich beeinträchtigten Menschen. Zudem sind Frauen häufiger in Begleitung von Kindern, sowie von körperlich beeinträchtigten und älteren Menschen.
Zudem können 20 bis 25 Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter jederzeit ihre Periode haben und deshalb Tampons oder Binden wechseln müssen. Das gängige Toilettendesign vernachlässigt die (immerzu unterbewertete!) weibliche Care-Arbeit. In der Regel sind es Frauen, die Kinder mit aufs Klo begleiten. Ganz zu schweigen vom Wickeltisch, der meist nur auf den Frauentoiletten zu finden ist.
Gegenstände für Männerhände
Aktuelles Ärgernis: Smartphones lassen sich für Menschen mit größeren Händen besser bedienen. Heißt: für Männer. Denn diese haben durchschnittlich eine größere Handspannweite als Frauen. Was Männern passt, hat allen zu passen, lautet daher ein (passendes) Kapitel in Criado-Perez’ Buch. Denn viele vermeintlich geschlechtsneutralen Produkte sind, wenn man es recht betrachtet, alles andere als neutral.
Deren Norm orientiert sich nämlich an einem männlichen Prototyp. So auch die Standardklaviaturen. Fazit: An der männlichen Norm angepasste Produkte sind für Frauen oft unpraktisch – können aber auch gravierendere Konsequenzen haben: Untersuchungen zufolge haben z.B. Pianistinnen ein um 50 Prozent höheres Risiko für Schmerzen und Verletzungen als Pianisten.
Spracherkennungssoftware
Tatsache: Sprachbefehle von Frauen werden von der Spracherkennungssoftware schlechter verstanden als die von Männern. Warum? Diese Software schulen – klassisch dem Gender Pay Gap- die Programmierer:innen mit Stimmaufnahmen aus großen Datenbanken, welche deutlich mehr Männerstimmen enthalten. Ein Symptom des Gender Data Gap. Ein weiteres und daraus folgendes Problem: Die anhand von den daraus sich ergebenden Algorithmen – basierend aus männlichen Daten – entwickelten Produkte verstärken die Ungleichheit in der Welt.
Männliche Crashtest-Dummys – Gender Data Gap mit lebensbedrohlichen Folgen
Besonders deutlich wird dieses Ungleichgewicht im Straßenverkehr. Die Sicherheit von Autos wurde lange nur an Crashtest-Dummys getestet, die dem männlichen Körper entsprechen. Und dem nicht genug. Autos selbst sind daher so gebaut und konzipiert, dass sie einen Mann viel eher optimal beschützen, als eine Frau. Studien zeigen sogar, dass Frauen bei Autounfällen ein höheres Verletzungsrisiko als Männer haben.
Der am häufigsten eingesetzte Crashtest-Dummy ist 1,77 Meter groß und wiegt 76 Kilogramm. Eine Folge: Frauen schleudert es einer Studie zufolge bei Unfällen stärker und schneller nach vorne, weil der Sitz anders auf ihre leichteren Körper reagiert. Mittlerweile habe Firmen darauf reagiert und testen auch mit „weiblichen“ Dummys. Kleines Manko: Es wurde nur die Größe der Puppen verändert, nicht aber der Körperbau. Laut Criado-Perez sind in den USA und der EU bis heute keine Tests an Puppen mit dem Körperbau von Schwangeren gesetzlich vorgeschrieben.
Fazit
Das knapp 500 Seiten starke Buch Unsichtbare Frauen enthält zahlreiche weitere Beispiele, die erahnen lassen, wie groß der Gender Data Gap ist. Somit liefert Criado-Perez jede Menge Beispiele. Das Buch hat 1331 Fußnoten, in der Regel Quellenhinweise auf Studien und Medienberichte. Eindeutig zu viel Daten! Fazit: Wie beim Gender Pay Gap gilt es auch diesen Gap zu schließen, um ein gerechtes Miteinander für alle zu gewährleisten.
Titelbild Credits: Shutterstock
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