Unsere hoch gerühmte Diskussionskultur – bei der jede*r zu Wort kommen darf – und in der sich, aus einem intellektuellen Spiel aus These und Anti-These, eine allgemeingültige Synthese (aka Schlussfolgerung) bilden lässt, scheint immer mehr zum Scheitern verurteilt. Wie das unrühmliche und vermeintliche Mansplaining-Beispiel eines Richard David Precht veranschaulicht hat. Um diesem Trend entgegenzuwirken, hat der Westend Verlag eine empfehlenswerte Streitfragen-Buchreihe herausgebracht, in der laufend brisante Themen von zwei entgegengesetzten Meinungen diskutiert werden. Wir haben uns durchgelesen, was es über das Phänomen Wachstum zu berichten gibt.
Wachstum heißt Entwicklung
Die Lektüre beginnt und die politische Philosophin Katja Gentinetta entführt uns in einen Denkansatz, der das Phänomen „Wachstum“ geradezu als Grundsatz eines glücklichen Lebens setzt. Wohlstand für alle kann ihr zufolge nur durch eine Fortführung des Wirtschaftswachstums gewährleistet werden. Und eben nicht durch dessen Unterbindung – wie Vertreter*innen u.a. der De-Growth-Bewegung behaupten. An keinem Punkt ihrer Argumentation an so etwas wie Glorifizierung scheiternd, zeichnet die Philosophin einen durchaus interessanten Ansatz. Niemals Propaganda, immer sachlich und kompetent.
Wirtschaftswachstum als essenzielle Bedrohung
Einen anderen Ansatz in seiner Argumentation wählt der Contra-Part des Buches, Niko Peach, Volkswirt und einer der wichtigsten Vertreter der Wachstumskritik. Technologische Problemlösungen, die alles wegoptimieren, sodass niemand verzichten muss und aus seiner Komfortzone heraustreten zu brauch – was ja oft als Wachstumstraum verkauft wird – ist Peach zufolge eine Illusion. Gewitzt und tiefgründig-reflektiert nimmt er diese Wachstumsträume auseinander.
Ohne zivilgesellschaftliche Aktion können wir der Katastrophen nicht mehr Herr werden. Mit dem Buch »Wachstum?« bietet uns der Westend Verlag eine wichtige Handreichung.#Wachstum #Ökonomie @KGentinetta https://t.co/vyA8SK6Juk pic.twitter.com/KnXXq1ctr1
— Westend Verlag (@WestendVerlag) September 2, 2022
Synthese
Was die Streitfragen-Buchreihe auszeichnet, kommt auch im Buch Wachstum voll zur Geltung. Die Animation zum Selberdenken. Zwischen beiden oben erwähnten Positionen (die beide, jede für sich, nachvollziehbar sind) gilt es seine eigene Meinung zu finden. Eine Herausforderung, denn in ihren Ansätzen (bzw. in ihren Gedankengängen) haben beide Seiten (Pro und Contra) doch irgendwie auch recht.
Ohne dass die Debatte zu einem medial-inszenierte und übersättigenden Wettkampfspektakel der Meinungen bekommt, wo der oder diejenige gewinnt, der lauter brüllt und mehr Lichterketten um den Hals hängen hat, liest man hier, wie so etwas wie respektvolle Diskussion wirklich ablaufen sollte. Das Buch macht Hoffnung, dass eine reflektierte Meinungsbildung durchaus noch möglich ist. Auch wenn die Antwort auf viele Fragen nur selten einfach ist. Und wenn man das Buch nach der Lektüre zuschlägt – und zwischen den beiden Argumenten hin und her überlegt —, wird man dazu angehalten, nicht das eine oder das andere zu wählen, sondern so etwas, wie eine eigene Meinung zu gestalten, die gespeist aus wichtigen Gedanken fundierter sein wird, als jede vorgegebene Meinung der Tagespresse.
Titelbild © Shutterstock
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