Black Lives Matter, die Covid-Pandemie, Identitätspolitik, soziale Hetze und gesellschaftliche Panik. Selten gelingt es Autor*innen, unterschiedliche gesellschaftliche Phänomene auf einen Nenner zu bringen und daraus auch noch einen zugänglichen Roman zu machen. Dem internationalen Erfolgsautor Mohsin Hamid ist dies mit seinem neuen Roman Der letzte weiße Mann jedoch gelungen. Unsere WARDA-Leseempfehlung.
Kafkas Verwandlung mit der Rassismusthematik neu interpretiert
Wir alle kennen Franz Kafkas 1912 entstandene Erzählung Die Verwandlung. Darin geht es um Gregor, der sich plötzlich in einen Käfer verwandelt und daraufhin von seinem sozialen Umfeld zugrunde gerichtet wird. Der Roman Der letzte weiße Mann von Mohsin Hamid beginnt ähnlich: „Eines Morgens wachte Anders, ein weißer Mann, auf und stellte fest, dass seine Haut sich unleugbar tiefbraun gefärbt hatte.“
Vollkommen verstört schließt Anders sich in seiner Wohnung ein, geht nicht zur Arbeit, meldet sich krank. Nur seinem „Gpusi“ erzählt er von seiner Verwandlung. Seiner Verzweiflung alleine ausgeliefert, wagt er sich erst wieder aus seiner Wohnung, als sich die Fälle dieser Transformationen häufen. Denn immer mehr Berichte über ähnliche Verwandlungen tauchen auf. Hamids Gregor ist mit seiner Transformation also nicht alleine. Denn das Schwarzsein breitet sich unnachgiebig aus.
Covid-Pandemie, Identitäres Geplänkel und Gewalt
Wie die hauptsächlich weiße Gesellschaft darauf reagiert? Mit Panik, Hass und Gewalt. Ein Teil (wie groß dieser tatsächlich ist, erklärt das Buch nicht) fühlt sich in seiner Identität und in dem Selbstverständnis bedroht und fürchtet den Umsturz der bestehenden Ordnung.
Bürgerkriegsähnliche Zustände sind die Folge und militante Verfechter des Weißseins streifen bewaffnet durch die Stadt und wollen jeden Schwarzen aus der Stadt jagen – mit Gewalt, wenn es sein muss. Aus Angst, ebenfalls verwandelt zu werden, schließen sich viele zu Hause ein und gehen nicht mehr raus – der Lockdown lässt grüßen. Doch die Verwandlung der Gesellschaft scheint nicht mehr aufzuhalten.
Literarisch leichtfüßig durch schwere Themen wie Rassismus, Gewalt und Identität
Mohsin Hamids Ansatz ist genial. Sogar so genial, dass man sich wundern muss, warum nicht schon viel früher jemand auf die Idee gekommen ist, die Angst der Weißen vor dem Schwarzsein (Stichwort: White Fragility) in dieser Form zu behandeln. Denn diese Idee ist in ihrer Einfachheit geradezu großartig. Ein bisschen Kafka (die schon erwähnte Verwandlung), ein wenig José Saramago (Die Stadt der Blinden), Gewalt, Rassismus, Identität, aber auch Liebe.
Geschickt umgeht der Autor dabei auch viele gesellschaftspolitische Fallen. Und anstatt über die große Verwandlung der großen Gesellschaft zu schreiben (was z. B. Michel Houellebecq sehr gut gelingt), legt er den Fokus gezielt auf die Verwandlung der vier Hauptfiguren (Anders, dessen Freundin Oona, seinen Vater und ihre Mutter). Gekonnt – aber auch leicht eigenwillig in seinem Stil – beschreibt Hamid, wie die vier mit diesem Umbruch umgehen. Dabei bleibt er jedoch erfrischend menschlich, verlagert das Große ins Kleine und man bekommt als Leser*in wirklich einen guten Eindruck vermittelt, wie so eine Verwandlung im Inneren des Menschen psychologisch ablaufen könnte.
Fazit
Jede der Figuren spiegelt einen bestimmten Verwandlungstypus. Wobei die Ansichten der Mutter und des Vaters über das Schwarzsein bzw. -werden unleugbar von einem Rassismus umspielt werden, welchen diese zwar zu leugnen versuchen, jedoch einfach nicht aus ihrer Haut können. Dies zum Teil aber dann doch tun müssen.
Und am Ende, als die Unruhen abklingen und so etwas wie eine neue Normalität herrscht, lässt der Autor jedoch die Frage offen, ob es den Menschen gelingen wird, sich jemals wirklich zu sehen – fernab aller Äußerlichkeiten. Auf kleinem Raum verhandelt Mohsin Hamid die großen Fragen zum Thema Rassismus, aber vor allem zum Thema Menschsein. Ein wichtiges, geradezu dingliches Buch, das man notwendigerweise auch lesen sollte.
Titelbild © Shutterstock
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