Häusliche Gewalt an Männern löst Schamgefühl bei Opfern aus und Außenstehende belächeln Betroffene nicht selten. Immerhin ist der Mann das körperlich überlegene Geschlecht. Im Interview mit einem Betroffenen sieht man aber, wie ein Mann in dieses Dilemma gerät und dass es besonders schwer ist, aus solchen toxischen Verhältnissen auszubrechen.
Wenn wir an häusliche Gewalt denken, sehen wir meistens einen starken Mann vor unserem geistigen Auge, der die Hand gegen eine schwache, wehrlose Frau erhebt. Doch dieses vorgefertigte Bild von häuslicher Gewalt entspricht nicht immer der Wahrheit. Beziehungsgewalt ist zwar überwiegend, aber keinesfalls ausschließlich ein männliches Phänomen.
Nach Studien des Robert Koch-Institutes kommt häusliche Gewalt an Männern in etwa in der gleichen Größenordnung vor wie häusliche Gewalt gegen Frauen. Offizielle Statistiken vom BMFSFJ sprechen von ca. 30 % männlichen Opfern. Gerade in Zeiten des Coronavirus ist häusliche Gewalt ein Thema, das noch mehr Aufmerksamkeit verdient.
Doch was genau beinhaltet weibliche Gewalt an Männern? Was macht diese Problematik zu einem Tabuthema? Und warum wehren sich Männer nicht?
Häusliche Gewalt an Männer kommt in drei Varianten vor
Das sagen zumindest portugiesische Psychologinnen um Andreia Machado von der University of Minho.
Die häufigste Variante ist psychische Gewalt. Dazu zählen beispielsweise Beleidigungen, Erniedrigungen, Hänseleien, Kontrollen, Verbote, Drohungen und Erpressungen. Subtil und doch schmerzhaft.
Die zweithäufigste Variante ist körperliche Gewalt. Frauen schlagen mit der Hand oder den Fäusten zu. Sie beißen, kratzen, reißen an den Haaren oder treten mit den Füßen. Noch häufiger bedienen sie sich verschiedener Objekte, die sie als Waffen einsetzen, wie zum Beispiel Scheren, Küchengeräte, Schuhe, Messer, Hämmer und anderes Werkzeug. Auf diese Weise gleichen sie ihre körperliche Unterlegenheit aus.
Die dritte Variante ist sexuelle Gewalt. Obwohl oft belächelt, auch Männer werden sexuell belästigt, vergewaltigt oder zu Handlungen gezwungen, die sie ablehnen. Häusliche Gewalt an Männern hat viele Gesichter.
Weibliche Gewalt als Tabuthema
Das Bild der Frau ist, wie auch das Bild der Männer, zu einem großen Teil gesellschaftlich geprägt. Nicht nur den von Gewalt Betroffenen fällt es schwer, sich von diesem Bild loszulösen – das Problem ist viel weitreichender. Wenn Männer Opfer häuslicher Gewalt werden, ist das psychische Leiden beinahe unerträglich.
Das Verlieren der „Männlichkeit“ und des starken Selbstbildes lässt Betroffene oft viel zu lange in diesen toxischen Verhältnissen ausharren. Scham führt zu Hemmungen. Das „Hilfe holen“ wird schnell zum unerreichbaren Licht am Horizont.
In Wien gibt es vier Frauenhäuser, die sehr schnell mit einer einfachen Internetsuche gefunden werden können. Nach expliziten Männerhäusern sucht man allerdings vergeblich. Auch das ist ein Grund, warum die Hemmschwelle sich Hilfe zu holen nicht selten zum größten Hindernis wird.
Sogar wenn Opfer von häuslicher Gewalt Hilfe suchen, werden sie traurigerweise nicht selten belächelt. Und dabei sprechen wir nicht nur von Familienmitgliedern, Freunde oder Kollegen, sondern auch von offiziellen Stellen wie der Polizei. Ausgelacht und nicht ernst genommen zu werden, führt bei den Betroffenen zu einem Trauma, dass das Ausbrechen aus dem Teufelskreis massiv erschwert.
„Warum wehren sich Männer nicht einfach?“
Ein Grund ist eine angeborene oder anerzogene Hemmung. Jungen und Männern wird von klein auf beigebracht, körperlich Unterlegenen und vermeintlich Hilflosen und Schwachen wie etwa Frauen und Kindern nichts zu tun, denn dies gilt als „unehrenhaft“. Häusliche Gewalt an Männern ist auch heute noch ein Tabuthema.
Wir denken nur an den Satz „Frauen und Kinder zuerst!“ Diese Denkweise wird Männern nicht nur von ihrem familiären Umfeld, sondern auch von der Gesellschaft eingeimpft.
Männern fällt es schwer, sich als Opfer zu sehen und mit der Opferrolle zu identifizieren. Eine Frau anzugreifen ist damit undenkbar. Sie sind immerhin das starke Geschlecht.
Ein weiterer Grund ist, dass Männer Frauen oft nicht als ebenbürtig ansehen. Sie unterschätzen die Gefahr, die von ihnen ausgehen kann, und entwickeln ihnen gegenüber nicht das Gefühl, ernsthaft bedroht zu sein.
Männer werden systematisch dazu konditioniert, Schmerzen zu ertragen. In weitere Folge werden ihre Selbstschutzstrategien nicht aktiviert. Auch hier ein allseits bekannter Satz, den Männer oftmals zu hören bekommen, wenn sie physisch oder psychisch leiden: „Man up, so schlimm ist es doch nicht.“
Interview mit einem Betroffenen
Um diesem Thema mehr Aufmerksamkeit zu schenken und Betroffenen eine Stimme zu geben, haben wir mit einem Opfer von häuslicher Gewalt gesprochen.
Lukas*, du warst in einer Beziehung, in der du häusliche Gewalt erlitten hast. Danke, dass du mit uns über deine Erfahrungen sprichst. Beginnen wir von vorne. Wie war der Anfang dieser Beziehung?
Am Anfang hatte ich das Gefühl, dass ich mein verlorenes Puzzle-Teil gefunden habe. Wirklich alles war wunderschön! Der Sex war spektakulär. Die ganze Beziehung war voller Leidenschaft. Später dann auch im negativen Sinne. Aber zu Beginn war es nur schön.
Wann gab es erste Warnzeichen, dass sich die Beziehung ins Negative verändert?
Bereits nach einem Monat habe ich begonnen zu merken, dass etwas nicht stimmt. Ich habe damals irgendeinen simplen Scherz gemacht und plötzlich fing sie an mich zu treten. Während sie an PMS litt oder ihre Periode hatte, wurde sie zunehmend aggressiver und auch immer öfter verletzend. Ich dachte, dass es irgendwann aufhören würde. Das was dich in einer solchen Beziehung hält, ist die Hoffnung. Bevor diese nicht komplett ausgelöscht ist, bringt man es nicht fertig, die Person zu verlassen, die man liebt.
Welche Formen von häuslicher Gewalt gab es? War sie körperlich oder verbal?
Beides. Verbale Gewalt gehörte irgendwann zur Gewohnheit. Körperliche Gewalt gab es im Gegensatz dazu seltener. Wenn sie körperlich wurde, war es dafür einfach nur krass. Man konnte sie durch nichts beruhigen. Als Mann kannst du da nur weggehen oder still dastehen und es ertragen. Ich bin meist gegangen, nachdem ich gemerkt hatte, dass sie sich immer weiter hinein steigert. An ihren schlimmsten Tagen war die verbale Gewalt aber das, was mich am meisten getroffen hat. Sie hat Dinge gesagt, die ich nicht so leicht vergessen kann.
Wie haben sich diese Situationen entwickelt? Gab es einen langsamen Aufbau bis zur Eskalation? Wusstest du wann es passiert?
Nach dem 2. Jahr war ich überzeugt, dass ich es nicht vorhersehen kann, egal was. Sie wusste es selbst nicht. Ein falsches Wort konnte zu einem heftigen Streit führen und egal wie ich mich verhielt, ich konnte die Streitereien nie abwenden. Irgendwann läuft man wie auf Eierschalen um die Person herum, aus Angst, dass sie wieder explodiert. Es war ein regelrechtes Minenfeld. Sie ging sofort von null auf hundert – ohne Vorwarnung.
Welche Triggerpunkte gab es bei ihr? Hast du versucht bestimme Dinge zu vermeiden, um der drohenden Gewalt zu entgehen?
Es war immer von ihrer Stimmung abhängig. Ich habe stets versucht ihr zu zeigen, dass ich auf ihrer Seite stehe und wir unsere Probleme als Team lösen können. Es hat aber nie etwas gebracht. Wirklich jede Kleinigkeit konnte dazu führen, dass sie an meiner Liebe zweifelte und darauf mit heftiger Wut reagierte. Es waren wirklich meist Kleinigkeiten wie, dass ich ein Lied ihrer Lieblingsband nicht so mochte. Ich habe es auch einmal gewagt die Royal Family zu kritisieren. Dazu muss ich sagen, dass sie Engländerin war. Alles, das auch nur ansatzweise als Kritik aufgefasst werden konnte, führte zur Eskalation.
Wenn es körperliche Gewalt gab – Welche Objekte wurden verwendet?
Fingernägel und Gläser kamen oft zum Einsatz, aber auch Schubsen und Treten waren Standard.
Wenn es verbale Gewalt war – Welche Worte musstest du dir anhören?
Das möchte ich nicht beantworten.
Welche Gefühle haben sich in dir bemerkbar gemacht, während du diese Gewalt erlitten hast? Wut? Angst? Scham?
Gaslightning is the real deal. Ich hatte viel Wut in mir, weil ich nicht wusste, ob wir die Gewalt jemals hinter uns lassen werden. Ich habe auch mit Scham gekämpft, weil ich überzeugt war, dass ich das Problem war. Erst nach 4 Jahren habe ich gesehen, dass das nicht der Fall war. Außerdem Trauer, da man den Menschen, mit dem man die höchsten Höhen erlebt hat, gehen lassen muss. Wenn es gut läuft, ist es ja wunderschön und man verdrängt gerne die schlimmen Wutanfälle. Wenn man irgendwann an dem Punkt ist, dass man es sich nicht länger schön reden kann, dann ist man nur noch traurig und enttäuscht.
Hast du dich je gegen diese Gewalt gewehrt? Wenn ja, wie? Wenn nein, warum nicht?
Niemals. Ich bin grundsätzlich ein Mensch, der gegen jegliche Gewalt ist. Ich bin ihr einfach ausgewichen. Sich zu wehren kam für mich nie in Frage. Für einen Mann gibt es nur eine Möglichkeit, nämlich die Wohnung zu verlassen. Häusliche Gewalt an Männern ist sehr komplex.
Hat das „starke, männliche“ und das „schwache, weibliche“ Bild der Gesellschaft eine Auswirkung auf dein Verhalten gehabt?
Ich wollte eher ihr starker Beschützer sein und sie vor sich selbst retten. Ich habe sie immer als schutzbedürftig wahrgenommen, weil sie eine schlimme Vergangenheit hatte, aber dabei ganz ignoriert, was sie mir für einen Schaden zufügt. Und, dass sie in unserer Beziehung nicht das Opfer war, sondern der Täter.
War dir bewusst, dass du häusliche Gewalt erlebst oder wurde dir das erst im Nachhinein klar?
Sehr gute Frage. Wie erwähnt, Gaslighting ist real. Da denkt man nur, wieso kann ich sie nicht glücklich machen? Wieso ist sie immer verletzt? Man sieht nicht, dass man selbst verletzt wird. Man sucht die Schuld bei sich. Mir war aber schon klar, dass ihre Wutanfälle sehr extrem und nicht normal waren.
Wann hast du gemerkt, dass du aus dieser Beziehung flüchten musst?
Als sie anfing Xanax mit Alkohol zu mischen und anschließend auf mich losging. Danach rief sie die Polizei. Als die Polizei kam, haben die aber relativ schnell gemerkt, dass sie etwas genommen hat und sie hat schlussendlich auch die Wahrheit gesagt. Es war trotzdem ein sehr traumatischer Abend.
Wie bist du aus dieser Beziehung rausgekommen?
Nachdem ich meiner Familie und meinen Freunden erklärt habe, was alles passiert ist, haben sie mir alle gesagt, dass ich da raus muss. Das Wichtigste ist, dass man sich nicht von Familie und Freunden isoliert, denn man selbst sieht vieles nicht, wenn man zu tief drin steckt. Leider versucht der missbräuchliche Partner sehr oft den anderen zu isolieren, damit er vollständig abhängig ist von ihm oder in diesem Fall ihr.
Hast du professionelle Hilfe in Anspruch genommen?
Ja, kurz nach der Trennung habe ich gemerkt, dass es besser ist, mit jemandem darüber zu sprechen.
Hattest du das Gefühl, dass es für dich leicht war, Hilfe zu bekommen?
Ich hatte das Gefühl, dass ich ernster genommen werden würde, wenn ich eine Frau gewesen und die Rollen vertauscht gewesen wären.
Hast du Freunden oder Familienangehörigen davon erzählt? Wenn ja, wie waren die Reaktionen?
Ja, sie waren geschockt. Das hat mir die Augen geöffnet. Der Missbrauch passiert ja nicht gleich von Anfang, sondern in kleinen Schritten, sodass du es nicht merkst und dich immer mehr daran gewöhnst und es für dich normal wird. Erst, wenn deine Umgebung dir spiegelt, wie schlimm doch ihr Verhalten wirklich ist, wacht man auf. Und dann dauert es lange bis man akzeptiert, dass man ihr nicht helfen kann. Man hat immer noch Hoffnung, weil nach jedem Streit wieder eine Honey Phase folgt, die süchtig macht.
Mit welchen Folgeschäden kämpfst du nun nach dieser Erfahrung?
Ich bin seitdem keine Beziehung mehr eingegangen. Selbst, wenn ich jemanden richtig toll finde, fällt es mir schwer Gefühle zuzulassen.
Wie hat sich dein Bild auf Frauen nach dieser Zeit verändert?
Es hat sich glücklicherweise wenig geändert. Ich habe nur auf die harte Tour gelernt, dass ich niemandem helfen kann, der keine Hilfe möchte.
Was würdest du Betroffenen raten?
Erzähle Freunden und Familie davon, auch, wenn es unangenehm ist. Man braucht das Feedback von außen und deren Hilfe, wenn es vorbei ist. Entschuldige ihr Verhalten nicht, indem du dir sagst, sie hatte doch eine schlimme Kindheit und kann nichts dafür. Das mag stimmen, aber es ändert nichts an der Realität, dass dich die Beziehung kaputt machen wird. Und das aller Wichtigste: Schäme dich nicht, es sind mehr davon betroffen als du denkst.
Entstigmatisierung von häuslicher Gewalt an Männern
Was wir tun können, um es Männern leichter zu machen aus diesen Situationen auszubrechen, ist sie ernst zu nehmen. Sie nicht auszulachen oder ihr Leiden zu verharmlosen. Lernen aufrichtig zuzuhören und uns von gesellschaftlichen Normen und Denkweisen zu lösen. Zu akzeptieren, dass weibliche Gewalt existiert und genauso schwerwiegende Folgen haben kann wie die von Männern, ist der erste Schritt zu echter Veränderung.
Wer von häuslicher Gewalt betroffen ist, der findet hier oder hier Hilfe.
Solltest du eine Frau sein und von häuslicher Gewalt betroffen sein, findet du hier Hilfe.
*Name von der Redaktion geändert
Titelbild: pexels.com
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