Huguette Couffignals Ausnahmebuch vereint 300 Rezepte aus aller Welt. Doch geht es darin nicht um die schillernde Fusion Kitchen der Haubenküche oder einen anderen gehypten, kulinarischen Luxus. Im Buch Die Küche der Armen ist der Titel Programm. Das Werk eine Mischung aus ethnologischem Reisebericht, sozialkritischem Kochbuch und anthropologischem Exkurs in Sachen Nachhaltigkeit. Ursprünglich 1970 veröffentlicht, beweist die Neuauflage, nicht nur die kassandrahafte Genialität der Autorin, sondern vor allem die Dringlichkeit eines kulinarischen Umdenkens.
Huguette Couffignal: Die Küche der Armen, Ersterscheinung 1970
Huguette Couffignal – von der persönlich praktisch nichts bekannt ist – hat 1970 ihr wohl berühmtestes Werk „La Cuisine des Pauvres“ veröffentlicht. (Die Küche der Armen, auf Deutsch erstmals 1978 erschienen). Auf der einen Seite kann dieses, durchwegs revolutionäre Buch ganz eindeutig als Kochbuch betrachtet werden, das Anleitungen zur Zubereitung von Gerichten enthält, die bei bedürftigen Menschen in verschiedenen Teilen der Welt aufgezeichnet wurden. Alleine das ist schon ein kleiner Geniestreich! Auf der anderen Seite brilliert dieses Ausnahmekochbuch zuzüglich auch noch mit wichtigen ethnografischen Merkmalen.
Couffignal beleuchtet nämlich vor allem die sozialhistorischen Entstehungskontexte sowie die regionalen Verbreitungen und Variationen der jeweiligen Gerichte. Das Buch beginnt daher auch mit einem Essay, der die sozialen Bedingungen in den von ihr besuchten Regionen reflektiert. Herausgeberin Barbara Kalender geht davon aus, dass Couffignal alle Weltregionen, mit der Ausnahme Australiens bereist haben muss.
Dabei beschäftigt sich die Autorin mit Fragen der Armut, der globalen Ernährung, des Vegetarismus und der kulturellen Einbettung von Essgewohnheiten. Und das schon im Jahre 1970. Nun wurde dieser Meilenstein der Kochbücher neu aufgelegt.
Kochshows, Foodporn und die hyperreale Kluft zwischen Leben und Ernährung
Wir leben in geradezu bizarren Zeiten. Die Zahl der Kochshows steigt seit den 1990er Jahren kontinuierlich. Das Wort „exzessiv“, um diese Entwicklung zu beschreiben, ist fast schon eine Untertreibung. Darüber hinaus bringen uns etliche Food-Dokus an die entlegensten Orte der Welt und stellen uns eine nicht mehr überschaubare Anzahl an Gerichten vor. Aufwendig inszeniert natürlich.
Der Begriff „Foodporn“ dürfte jedem Menschen ein Begriff sein – die glamouröse und spektakuläre Darstellung von Speisen, die sich nur selten mit der Realität deckt. Und Realität? Der französische Philosoph Jean Baudrillard, wäre er noch am Leben, hätte vermutlich lange schon einen oder sogar mehrere Essays über die Hyperrealisierung unserer Nahrung geschrieben.
Um all diese Phänomene auf einen Nenner zu bringen: Wir Menschen der ersten Welt haben lange schon den Kontakt zu unserer Nahrung verloren. Wir schielen in die Hauben-Lokale dieser Welt, lechzen nach immer abstrakteren Gerichten, während wir uns zu Hause irgendwelche Instant-Nudeln in der Mirko wärmen. Es herrscht eine krasse Kluft zwischen Leben und Ernährung.
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Huguette Couffignal: Die Küche der Armen revisited
„Warum soll man ein Kochbuch lesen, das schon über fünfzig Jahre alt ist?“, fragt die Journalistin Christiane Meister-Mathieu im Vorwort der Neuauflage von Die Küche der Armen? Und dann noch eines mit Rezepten aus der Armenküche. Wollen wir nicht vielmehr wissen, wie die Reichen und Schönen sich ernähren?
Und hier trennt sich die Spreu vom Weizen, denn wer sich wirklich für Kochen, Ernährung, Kulinarik, Kultur und Geschichte interessiert, kommt um das Buch Die Küche der Armen von Huguette Couffignal einfach nicht herum. Es füttert uns mit anthropologischen wie ethnologischen Informationen darüber, wer diese Menschen denn überhaupt sind, die ein bestimmtes Gericht essen bzw. essen müssen.
Die Küche der Armen verköstigt uns weiters mit Hintergrundwissen darüber, wie sich diese Gerichte überhaupt erst entwickeln konnten. Vor allem aber bietet es geradezu lehrreiche Einblicke in die Zukunft, immer noch. Denn auch das Essen von Insekten und Pflanzen wird einem von Huguette Couffignal indirekt ans Herz gelegt.
Die Küche der Armen: Kochbuch endlich anders
Geniale Kochbücher sind immer mehr als eine bloße Aneinanderreihung von Rezepten, untermalt mit foodpornhaften Bildern. Diese zeigen uns nicht nur ein Gericht, sondern entführen uns vor allem in eine andere Region, eine andere Zeit. Kochen ist mehr als die Befriedigung unseres gezüchteten Begehrens nach Extravaganz. Kochen ist Kultur, Geschichte und hat mehr mit dem Leben von Menschen zu tun, als mit irgendwelchen kulinarischen Fantasmen.
Die Küche der Armen der französischen Autorin Huguette Couffignal, transzendiert unsere hyperreale Empfindung von Essen „wieder zurück“ und macht einen kulinarischen Ursprung erfahrbar, den viele schon vergessen bzw. vermutlich nie gelebt haben. In der Welt des Foodporn gibt Couffignals zeitloses Ausnahmewerk dem Essen seinen genuinen Wert zurück. Etwas, dass man von vielen der gegenwärtig veröffentlichten Kochbücher, TV-Shows und Dokus, einfach nicht behaupten kann.
Titelbild © Shutterstock
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