Mit Lady Chatterley und ihr Liebhaber haut Streaming-Gigant Netflix wieder einmal eine prickelnde Affären-Geschichte raus. Nach dem Film 365 Days – welcher schamlos Entführungen und sexuelle Gewalt romantisiert – und ähnlichen „Sex-Streifen“, versucht man wieder, mit einem prickelnden Stoff aus vergangenen Tagen beim Publikum zu punkten. Ob das genauso gelingt wie bei Bridgerton ist jedoch fraglich?
Netflix Lady Chatterley: die Story
England zur Zwischenkriegszeit. Im Jahre 1917 heiratet Constance Reid aus der gehobenen Mittelschicht Sir Clifford Chatterley (extrem wohlhabend und auch recht größenwahnsinnig in seinem Klassenbewusstsein), der nach einer kurzen Flitterwochenzeit jedoch als Offizier in den Ersten Weltkrieg einberufen wird.
Im Krieg wird Clifford schwer verwundet und kehrt gelähmt und vor allem impotent (was für den Verlauf der Geschichte wichtig ist!) in die Heimat zurück. Zu Hause will er ein neues Leben als Schriftsteller beginnen. Connie wird von seiner Schriftstellerei daraufhin geradezu genötigt. Die intellektuelle Enge von Cliffords Welt engt sie zunehmend mehr ein. Was jedoch ein viel größeres Problem ist, das ist seine Impotenz, wie uns vermittelt wird. Zum Glück taucht da der potente und heiße Wildhüter Oliver Mellors auf, den die gute Connie auch beim Nackt duschen beobachten und einen wollüstigen Blick werfen kann – oder sogar zwei! Und dann folgt natürlich noch mehr.
Horror der Impotenz
Als Clifford seiner Frau erklärt, er könnte keinen Sex mehr haben – eigentlich funktioniert nur sein Penis nicht mehr, was heutzutage kein Grund ist, keinen Sex mehr zu haben, aber damals natürlich schon, oder? – ist an ihrem Blick zu erkennen, wie niederschmetternd diese Tatsache ist. Das Leben eines Mannes reduziert auf seinen Penis – das kennen wir doch von irgendwoher. Richtig: von überall kennen wir das.
Etliche Szenen konfrontieren uns mit den stillen Blicken der Verzweiflung, die Connie auf ihren Ehemann wirft. Seine Behinderung macht sie fertig! Und als „halbe Jungfrau“ lebt es sich natürlich nicht mehr ausgiebig und lebendig genug.
Netflix Lady Chatterley vs. H.D. Lawrence‘ Vorlage
Das Werk auf dem der Netflix-Film basiert – wer es noch nicht wissen sollte – auf dem Roman von D.H.Lawrence. Dieses gilt als eines der ersten ernstzunehmenden Werke der Weltliteratur, in denen menschliche Sexualität detailliert, ausdrücklich und vor allem literarisch wertvoll dargestellt wird. 30 Jahre nach seiner Ersterscheinung (1928) war das Buch wichtiger Teil der sexuellen Revolution in Großbritannien. In Lawrence Geschichte geht es um das Aufbrechen, wenn nicht sogar Einreißen gesellschaftlicher Normen, vor allem im Bereich der Sexualität. Aber auch bezüglich der gesellschaftlichen Klassen.
Buch vs. Film — Teil 1
Vor allem die Klassengesellschaft kommt im Film zu kurz – auch wenn dieses Thema natürlich aufgegriffen wird. Doch die Standesunterschiede sind im Buch (und waren damals) von größerem Gewicht, als es der Film darstellt. Ein Beispiel: Da Connie nicht weiß, wie sie den Wildhüter Mellors vom Status her einordnen soll, weiß sie am Anfang auch nicht, wie sie mit ihm reden kann.
Diesen Punkt beachtend, hätte der Film der Annäherung von Connie und Mellors eine Extraportion Leidenschaftlichkeit und vor allem mehr Intensität verleihen können. Bei dieser Intensität geht es nicht um leidenschaftlichen Sex, sondern um die tiefgründige und vor allem tiefgreifende Inszenierung einer zögerlichen Begegnung, die immer tiefer und tiefer wird. Wie die gelungene Umsetzung einer solchen Begegnung darzustellen ist, zeigt unter anderem der Film Call Me By Your Name. Darin baut sich die Annäherung langsam auf, ist aber dennoch extrem spannend.
Im Film Lady Chatterley und ihr Liebhaber passiert diese Annäherung leider ganz klassisch, wie in allen vergleichbaren Affäre-filmen. Die Affäre (in diesem Fall der heiße Typ) wird zweimal vorher im Film gezeigt – einmal begegnet Connie dem Wildhüter bei einem Spaziergang, ein weiteres Mal erspäht sie ihn nackt duschend – und beim dritten Mal reißt man sich dann schon die Fetzen von den Körpern. Von einer Magie der Annäherung keine Spur.
© Netflix
Buch vs. Film — Teil 2
Ein weiterer interessanter Aspekt ist auch Mellors selbstgenügsamer Lebensstil in einer Waldhütte, seine Unnahbarkeit und seine Verachtung für die Herrschaften. All diese Dinge faszinieren Connie. Im Gegensatz zum radikalen Kopfmenschen Clifford (um das Wort „intellektuell“ nicht verwenden zu müssen), stellt Mellors auch eine Figur dar, die mit ihrem ganzen Körper aktiv an der Welt teilnimmt, während der Erstere „nur herumsitzt“ und viel redet (über seine Schriftstellerei, wie toll er ist, was er alles mit den Kohlearbeitern machen will usw.).
Mellors lebt sein Leben aktiv, während Clifford passiv seinen Denkmustern nachhängt. Auch wenn seine Entscheidungen als Besitzender natürlich auch aktive Auswirkungen auf die Menschen um ihn herum haben, aber das ist nicht der Punkt. Während im Film die reine Nacktheit von Mellors für Connie anziehend erscheint, so ist diese Anziehung im Buch bei weitem vielschichtiger. Und wie wir alle wissen sollten, liegt hinter sexueller Anziehung bzw. einer Affäre mehr, als nur ein nackter Mann, den man beim Duschen beobachtet. Wie wir alle wissen? Der Netflix-Film weiß das zumindest nicht.
Fazit – was kann die Netflix Lady Chatterley?
Im Buch dauert es viel länger und ist der Weg viel tiefgründiger, der schließlich zu dem leidenschaftlichen Liebesverhältnis zwischen Connie und Mellors führt. Weite Teile des Romans sind Connies seelischer Entwicklung gewidmet — diese lernt erst mit der Zeit, sich vollkommen hinzugeben. Was natürlich realistisch ist, den von Null auf 100 wie im Film, laufen diese zwischenmenschlichen Dinge nur selten ab.
Wenn man einen klassischen Affären-Film sehen will, bei dem alles so abläuft, wie es sich gehört, dann ist man beim Netflix Lady Chatterley richtig. Er ist nicht schlecht, eigentlich sogar recht gut und unterhaltsam — viele Themen finden ihren Platz, wenn auch nicht ausgiebig genug. Sollte man auf diese Art von Filmen stehen, dann ist Laure de Clermont-Tonnerres Film durchaus einen Hingucker wert. Wer jedoch weiß, dass Affären und vor allem sexuelle Annäherungen tiefer und komplexer sein können und das auch in einem Film sehen will, der wird von dieser Lady Chatterley und ihrem Lover wohl enttäuscht sein.
Titelbild © Netflix
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