Ist etwas unangenehm oder löst Angst aus, neigen wir dazu, diesem Gefühl aus dem Weg zu gehen. Doch gerade diese nachvollziehbare Fluchtreaktion ist kontraproduktiv, wie der Begründer der Psychischen Flexibilität und einer der einflussreichsten Psychologen weltweit, Steven C. Hayes, in seiner Akzeptanz und Commitmenttherapie (ACT) erklärt. Wir haben uns sein wegweisendes Werk „Kurswechsel“ durchgelesen.
Psychische Erkrankungen auf dem Vormarsch
Im Jahre 1990 rangierten Depressionen als Ursache von Arbeitsunfähigkeit weltweit an vierter Stelle. Nach Atemwegsinfektionen, Durchfallerkrankungen und Schwangerschaftsproblemen. Im Jahr 2000 fanden sich laut der Weltgesundheitsorganisation WHO Depressionen in dieser Tabelle schon auf dem dritten Platz. 2010 belegte diese Form der psychischen Erkrankung den zweiten und 2017 den ersten Platz.
Bei ungefähr 40 Millionen US-Amerikanern über 18 wurden Angststörungen diagnostiziert. In Deutschland sind laut DGPPN, der Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, rund 15 Prozent der Erwachsenen davon betroffen. Angststörungen gehören in Deutschland somit zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Trotzdem werden sie in knapp der Hälfte der Fälle nicht erkannt und leitliniengerecht behandelt.
Zahlen psychischer Erkrankungen steigen unaufhaltsam an
Expertinnen und Experten sind sich einig darüber, dass die Zahlen psychischer Erkrankungen nicht stagnieren werden, sondern nur einen Weg kennen. Nach oben. Warum? Weil nichts unternommen wird, um diesen Trend zu stoppen. In unserer erbarmungslosen Leistungsgesellschaft mit seiner permanenten success und feel good only Ideologie ist kein Platz für „Schwäche“.
Fazit: Die Selbstsorge bleibt auf der Strecke. Die Gesundheit leidet. Physisch wie psychisch. Viele von uns spüren sich überhaupt nicht mehr und führen ein mechanisches Leben, in denen sie Routinen und Strukturen befolgen, bei denen sie keine Lebensfreude verspüren. Und die sie darüber hinaus auch noch kaputt machen.
Psychische Flexibilität beugt Depressionen vor
Auch wenn dieser schädliche Lebensstil uns alle betrifft, leiden jedoch nicht alle Menschen in denselben Ausmaßen unter diesen desaströsen mentalen Um- und Zuständen. Einige Menschen gehen aus Lebenskrisen gestärkt hervor. Während andere daran zerbrechen. Auch erleben einige Menschen mehr positive Gefühle als andere. Wie sind diese Unterschiede möglich, wo wir doch alle unter den mehr oder weniger selben Bedingungen leben?
Der Unterschied hat hierbei nichts mit so etwas wie „Stärke“ oder „Schwäche“ zu tun. Sondern liegt daran, dass einige Menschen psychisch flexibler sind als andere, und nicht wirklich daran, dass – machohaft gesprochen –, die einen mehr aushalten als die anderen, sich der Starke durchsetzt und die „Gewinner“ die Umstände eben besser „herunterschlucken“ und weitermachen können. Diese Sichtweise ist schlichtweg falsch! Denn im Verarbeiten von Traumen, negativen Erfahrung usw. ist es kontraproduktiv, sich den negativen Gefühlen zu versperren.
Sich dem Leiden zuwenden hilft – Psychische Flexibilität
Versucht man die negative Erfahrung bzw. das negative Gefühl zu verdrängen, zu leugnen oder mithilfe von Medikamenten abzutöten, dann führt das zu psychischer Starrheit und Inflexibilität. Und dies ist alles andere als heilsam. Einen anderen Kurs schlägt da die Psychische Flexibilität ein.
„Psychische Flexibilität beinhaltet die Fähigkeit, offen zu fühlen und zu denken, uns bereitwillig auf die Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks einzulassen, unserem Leben eine Richtung zu geben, die uns wichtig ist, und Verhaltensweisen zu verinnerlichen und zur Gewohnheit zu machen, die uns gestatten, unser Leben in Einklang mit unseren ureigenen Werten und Zielen zu gestalten. Es geht darum, zu lernen, sich nicht von schmerzlichen inneren Erlebnissen abzuwenden, sondern sich dem eigenen Leid zuzuwenden, um dadurch mehr Lebensbedeutung und Lebenssinn zu gewinnen.“, erklärt Prof. Dr. Steven C. Hayes die von ihm begründete Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT), die ihr Hauptaugenmerk auf Psychische Flexibilität legt.
Hayes zählt mit über 45 Büchern und 625 veröffentlichten Fachartikeln zu den einflussreichsten Psychologen der Welt. Zusammen mit seinem Team arbeitet er schon Jahrzehnte an diesem Thema. Sein kürzlich erschienenes Buch „Kurswechsel im Kopf. Von der Kunst anzunehmen, was ist, und innerlich frei zu werden“ liefert zum Thema Psychische Flexibilität die aktuellsten wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Psychische Flexibilität – revolutionäre Behandlungsmethode psychischer Erkrankungen
Anstatt uns unseren negativen Gefühlen zu versperren und davor zu flüchten, ermöglicht und die Psychische Flexibilität, den Blick mit Offenheit, Neugierde und Nachsicht auf das Unbehagen und die Unruhe in uns zu richten. Es geht darum, mitfühlend und ohne zu bewerten, Bereiche in unserem Innern und in unserem Leben anzuschauen, an denen wir leiden. Denn was uns am meisten Kummer und Leid bereitet, ist oftmals das, was existenzielle Bedeutung für uns hat.
Häufig folgen wir dem Impuls, unser Leiden entweder durch Verdrängung oder Selbstmedikation zu leugnen. Doch gerade damit gestatten wir diesen Emotionen jedoch, die Kontrolle über unser Leben zu übernehmen. Doch nicht so die Psychische Flexibilität. Diese ermächtigt uns nämlich dabei, „unser Leiden zu akzeptieren und ein Leben zu führen, wie wir es uns aus tiefsten Herzen wünschen, mit unserem Leid, wann und in welchen Bereich auch immer.“, so Hayes.
Wer unliebsame Gefühle verdrängt läuft Gefahr zu erstarren
Denn wer verdrängt, der spürt nicht nur den Schmerz nicht. Sondern nach einer Zeit verbannt man mit der Verdrängung auch das Glück aus seinem Empfinden. Bis man schließlich gar nichts mehr spürt. „Studien haben gezeigt, dass ängstliche Menschen, die zu Vermeidungsverhalten neigen, anfangs nur ihre Ängste nicht zulassen, aber am Ende auch Glücksgefühle nicht ertragen können.“, erläutert Hayes. Ebenso erschwert psychische Starrheit und Inflexibilität die Fähigkeit, von den eigenen Gefühlen und Empfindungen zu lernen. Chronische emotionale Störungen können eine Alexithymie auslösen – die Unfähigkeit, Gefühle überhaupt wahrzunehmen.
Flucht – die schlechteste aller Optionen
Wir tendieren dazu, uns dem inneren Leid durch Flucht zu entziehen oder gegen dieses anzukämpfen. Anstatt es als mentale Herausforderung anzusehen. Und unser Gehirn belohnt dieses Fluchtverhalten auch noch, da wir ja durch diese Flucht einer vermeintlichen Gefahr entkommen sind.
Doch Tatsache ist, dass, wenn man den eigenen Gefühlen aus dem Weg geht, dies zu noch viel mehr Problemen führt. Es ist wissenschaftliche erwiesen, dass Opfer von Gewalt z.B. mit höherer Wahrscheinlichkeit wieder Opfer von Gewalt werden. Vor allem jene, die auf die erlittene Gewalt reagieren, indem sie auf Distanz zu ihren Gefühlen gehen. Sobald dieser „Gefühlsmangel“ jedoch einsetzt, fällt es den Opfern auch schwer, zu erkennen, wer vertrauenswürdig ist und wer nicht. So tappen sie unbewusst immer wieder in dieselbe Falle.
Psychologische Erkenntnisse eines Terroranschlags
Studien bestätigen diesen Trend. Denn jene Personen, die die Anschläge des 11. September 2001 live mitansehen mussten und davon verstört waren – davon verstört zu sehen, wie Menschen aus Angst vor den Flammen in den Tod springen – haben ihr Trauma besser in den Griff bekommen, als jene, die angesichts dieser Erfahrung fest entschlossen waren, sich davon nicht einschüchtern zu lassen. Die Ersteren haben sich nämlich damit auseinandergesetzt. Die Letzteren nicht, weil sie meinten, sie müssen hart bleiben.
Psychische Flexibilität – sechs wichtige Kernprozesse zum Umgang mit Gefühlen
Doch sich mit seinen schwierigen Emotionen auseinanderzusetzen und daraus sogar zu lernen, hilft uns dabei, künftige Erfahrungen dieser Art zu vermeiden. Um sich also von einem Trauma zu befreien, ist es besser, sich eben darauf zu konzentrieren anstatt davonzulaufen. In seiner Therapiemethode hat Steven C. Hayes diesbezüglich 6 wichtige Kernprozesse zusammengetragen, die uns dabei helfen, richtig mit unseren problematischen Gefühlen umzugehen. Denn zahlreiche Studien belegen, das psychische Flexibilität eine Fähigkeit ist, die sich mithilfe bestimmter Lernprozesse trainieren lässt.
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Defusion
Kognitive Fusion bedeutet, die Dinge, die wir denken, als Realität zu betrachten. Bedeutet: Unsere Gedanken für wahr zu halten und unsere Handlungen bestimmen zu lassen. Doch das ist eine Täuschung. Wir sind programmiert, die Welt so wahrzunehmen, wie sie von unseren Gedanken konstruiert wird. Vergessen dabei jedoch, dass es nur unsere Gedanken sind.
Die Welt, die wir sehen, ist nicht die Welt, sondern meist nur unsere rein subjektiven Bewertungen davon. Wenn wir es schaffen, unseren Gedanken nicht so viel Macht zu geben, gelingt es uns vielleicht, uns aus unseren Bewertungen zurückzuziehen und einfach nur wahrzunehmen. Mit dieser Fähigkeit, auf Distanz zu unseren Gedanken zu gehen (Beobachterposition), können wir es schaffen, uns aus unseren negativen Gedankennetzwerken zu befreien.
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Selbst-als-Kontext
Dieser Punkt erfordert eine Abkehr von unserem konzeptualisierten Selbst (oder Ego) zu einem Selbst-als-Kontext. Oder einfacher formuliert, Beobachter-Selbst. Wir alle sind in einer Geschichte, unserer Geschichte, die wir von uns erzählen, verortet. Wenn wir uns daran klammern, dann fällt es uns schwer, aufrichtig gegenüber uns selbst zu sein bzw. Gedanken zuzulassen, Gefühle, die nicht in unsere Geschichte passen, aber genau daher lehrreich für uns wären.
Es geht darum, sich selbst aus dem Blickwinkel eines neutralen Beobachters zu betrachten. So gelangen wir zu der Erkenntnis, dass wir mehr sind als die Geschichte, die wir uns selbst erzählen.
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Akzeptanz
Wie schon erwähnt neigen wir dazu, belastenden Gefühlen auszuweichen. Doch verstärkt ein Vermeidungsverhalten unsere Probleme nur und schränkt uns erst recht ein dabei, mehr zu empfinden. Akzeptanz bedeutet daher: „unsere persönlichen Erfahrungen vollumgänglich anzunehmen, nicht in der Opferrolle, sondern in einem Zustand der Selbstermächtigung.“
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Präsenz
Anstatt sich von der Vergangenheit (des traumatischen Ereignisses) oder von der Zukunft in starrer Aufmerksamkeit festhalten zu lassen, gilt es, zur flexiblen Aufmerksamkeit zurückzukehren, die dem jeweils gegenwärtigen Augenblick gilt. Rigide Aufmerksamkeit ist die ständige Grübelei über die Vergangenheit und die Sorge um die Zukunft, welche wir als Orientierungshilfen verwenden.
„Doch damit gelangen wir in einen „mentalen Nebel“, in dem wir verzweifelt herauszufinden versuchen, was war und was sein wird, obwohl uns in unserer Situation nur das helfen kann, was derzeit ist. Flexible, gegenwartsbezogene Aufmerksamkeit oder volle Präsenz beinhaltet die bewusste Entscheidung, sich auf Erfahrungen im Hier und Jetzt zu konzentrieren, die hilfreich oder sinnvoll erscheinen, statt sich in sinnlose Vorlieben und Abneigungen zu verstricken.“
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Werte
Zu stark sind wir Opfer von Vorstellungen, Zielen und Idealen, welche die Gesellschaft für uns bereitstellt. In diesem Kernprozess geht es darum, eine Kursänderung von gesellschaftskonformen Zielen zu selbst gewählten Werten zu vollziehen. Viele Menschen bemühen sich vergebens fremdgesteuerte Ziele zu erreichen. Aus Angst ihre Umgebung zu verärgern oder zu enttäuschen.
Das Verhalten wird zwar nach diesen Vorgaben ausgerichtet, doch insgeheim widerstreben uns diese und untergraben unseren individuellen Entwicklungsprozess. Werte in Abhebung von Zielen sind daher selbst gewählte Qualitäten, die mit der Persönlichkeitsstruktur und mit dem Handeln verknüpft sind. Diese Werte bieten uns sinnstiftende und dauerhafte Motivationsquellen.
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Commitment
Commitment bedeutet: konkrete Handlungsabsichten, die sich aus einer inneren Selbstverpflichtung speisen. Weiteres gilt es Gewohnheiten zu entwickeln (durch eben engagiertes Handeln), die unsere selbstgewählten Werte verwirklichen.
Fazit – psychische Flexibilität als Hilfe in allen Lebenslagen
Jeder dieser beschriebenen ersten Schritte fördert eine praktische Umsetzung von „Kursänderungen“. Mithilfe dieser Kernprozesse gelingt es, unser Verhalten zu verändern und die Energie, die unserer unflexiblen psychologischen Starrheit innewohnt, in einen flexiblen Prozess umzulenken. Wenn wir lernen, Gefühle zuzulassen und sie neugierig, offen und voller Selbstempathie wahrzunehmen, „dann kann das Leid, das wir dabei empfinden, ein mächtiger Verbündeter für ein gelingendes Leben sein.“
Psychische Flexibilität ist in fast jedem Bereich menschlicher Funktionen getestet und wissenschaftlich erforscht. In der Wissenschaft nennt man diese Bandbreite transdiagnostische Behandlungsansätze. Das bedeutet, das psychische Flexibilität in zahlreichen traditionellen Kategorien der mentalen Gesundheit zum Therapieerfolg führen kann.
Ob Angststörungen, Depressionen, Substanzmissbrauch oder Essstören, psychische Flexibilität hilft bei all diesen und noch vielen weiteren Beschwerden dabei, an den Herausforderungen einer psychischen Erkrankung zu wachsen und eben nicht daran zu Grunde zu gehen.
Titelbild © Pixabay | thisismyurl
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