Das Phänomen der Fensterkonzerte – warum ist Musik für den Menschen so wichtig?

Die universelle Sprache der Musik berührt und schafft es, unseren Gemütszustand zu beeinflussen. In Zeiten der Coronakrise enstand das Phänomen der Fensterkonzerte und Menschen begannen, gemeinsam zu musizieren. Wir haben uns mit der Frage auseinandergesetzt, warum Musik für den Menschen so wichtig ist und uns zudem mit einem Musiker unterhalten, der von seinem Fenster aus Konzerte gibt.
„Musik ist die universelle Sprache der Menschheit“ – so formulierte es der amerikanische Dichter Henry Wadsworth Longfellow im Jahr 1835. Eine Aussage, in der offenbar eine tiefe Wahrheit gebettet ist.
Von Schockbildern zu hoffnungsvollen, freudigen Momenten des gemeinsamen Musizierens. Eine wahre Achterbahn der Emotionen lösten die Aufnahmen aus, die um die Welt gingen und nicht wenige Menschen tief berührten.
Das wegen des Coronavirus in Italien verhängte Ausgangsverbot traf die Italiener schwer. Neben der Ungewissheit und Angst vor den Folgen der Virusinfektion macht sich ‚gioia di vivere‘ durch Musik breit. Die italienischen Balkonkonzerte, die vor südländischer Leidenschaft und Lebenslust nur so strotzen, haben uns einen einfachen Weg aufgezeigt wie man auch in Zeiten der Krise gemeinsam einsam sein kann.
Yes. My daughter is in Italy and this is resilience. Everyone taking the lock down v seriously – as necessary for protecting one another – but also finding joy and pleasure within that. Not quite the behaviourist predictions
— MaryAdams (@maryluadams) March 13, 2020
Es ist mehr als bloße Unterhaltung. Es ist ein Gefühl des Zusammenhalts und der Verbundenheit, die dieser einfachen Idee zugrunde liegen und sie so wertvoll werden lässt. Der Schatten der sozialen Isolation wird damit, wenn auch nur für einige Minuten, mit Zusammengehörigkeit, Freude und vermeintlicher Normalität überstrahlt. Kostbare Minuten, die in Krisenzeiten Trost spenden.
Dem italienischen Beispiel der Kameradschaft folgen nun auch Musiker aus Wien, wie beispielsweise das „Fenster am Eck“. Kurze Musiksessions und Streams gibt es schon seit ein paar Wochen immer wieder, doch Rafael gibt seine Livekonzerte inzwischen mehrmals wöchentlich und hat sich damit sogar schon ein kleines Stammpublikum aufgebaut. Wir haben uns mit dem Fenstermusiker unterhalten.
Wie ist die Idee zu „Fenster am Eck“ entstanden?
Eigentlich hat mich das Ganze mit der Quarantäne kalt erwischt. Stimmt schon, da kamen viele Informationen aus den Medien, aber das hörte sich für mich anfangs so unwirklich an.
Und dann plötzlich Bumm, gerade noch zur Uni gegangen, nebenbei gearbeitet, Freunde getroffen wann und so oft ich wollte, und auf einmal soll man zu Hause bleiben. Zuerst dachte ich, kein Problem – war eh stressig die letzte Zeit. Ich gönne mir ein bisschen Auszeit. Nur irgendwann geht einem das gewohnte Leben ab, das Zimmer wird eng und die Gedanken kreisen um sich herum. Irgendwas musste ich tun, also begann ich Texte zu schreiben. Einige meiner engsten Freunde wohnen da drüben am Eck, also dachte ich mir, Gitarre raus, Fenster auf und ich trällere ihnen was von der anderen Seite.
Wie waren die Resonanzen? Gab es keinen Stress mit den Nachbarn?
Viele Nachbarn haben das mitbekommen und die Reaktion war eine Welle positiver Rückmeldungen. Da habe ich mir gedacht, ‚Schau ich kann noch mehr machen, als bloß zu Hause sitzen‘. Die Menschen sind dankbar für ein bisschen Zerstreuung und freuen sich, wenn ich ihnen Musikwünsche erfülle. Zu Beginn habe ich eigentlich nur eigene Lieder gespielt, jetzt aber cover ich auch einige Songs. Ich versuche trotzdem jedes Mal ein eigenes Lied mit reinzunehmen. Seit Beginn der Krise habe ich auch schon sechs neue Lieder geschrieben, inspiriert durch diese verrückte Situation, in der wir uns befinden.
Also bist du eine lebendige Jukebox?
Musikwünsche gibt es von A-Z. Das ist oft auch eine Herausforderung für mich, weil ich ja nur auf Gitarre und Gesang beschränkt bin. Es macht aber viel Spaß, Lieder neu zu interpretieren und zu singen!
Für mich sind die Konzerte Momente, in denen ich für einen Augenblick vergessen kann, dass ich gerade meine Uni Kurse auf Skype belege und darauf warte, wieder arbeiten gehen zu können, und ich habe das Gefühl, das diese Message ankommt.
Wie funktioniert das eigentlich mit dem Publikum in Zeiten von Social Distancing?
Manche stehen, natürlich mit Abstand, auf der Straße aber die meisten folgen mir live auf Instagram. Da erreichen mich auch die meisten Kommentare und gelegentlich bekomme ich kleine Geschenke vor die Tür gelegt, was voll lieb ist und mich natürlich auch pusht, weiterhin dran zu bleiben. Alle, die zu Hause bleiben, sind Helden und wenn ich dazu beitragen kann, das Ganze erträglicher zu machen, freut mich das extrem.
Ich werde mal weiter am Fenster sitzen und für alle singen, die mir zuhören, und würde mich sehr freuen, wenn es, sofern es die Umstände zulassen, ein Konzert geben wird.
Vor allem will ich unbedingt meine Nachbarn treffen, die ich davor nicht kannte, aber die durch dieses Ereignis mit mir in Kontakt getreten sind.
Wo und wann kann man dich spielen hören?
Ich spiele immer Dienstag, Freitag und Sonntag um 18:00, Döblinger Hauptstraße – Ecke Schegargasse im 19. Bezirk.
Die Idee kommt also gut an. Doch was macht Musik zu dieser angeblich universellen Sprache, die uns alle verbindet? Musikwissenschaftler aus aller Welt versuchen seit Jahren diese Frage zu beantworten.
„Trotz der erstaunlichen Vielfalt an Musik, die von unzähligen Kulturen beeinflusst wird, liegt unserer Natur offenbar eine musikalische Struktur zugrunde, die kulturelle Unterschiede überwindet.“ – So Samuel Mehr, ausgebildeter Musiker, Psychologe und Leiter des „Music Labs“ an der Harvard University.
Credits: Unsplash
Unter seiner Leitung führten ForscherInnen von der Universität Harvard eine umfassende Analyse der Musik verschiedenster Kulturen durch. Die Ergebnisse waren eindeutig. Die Funktion von Liedern aus den unterschiedlichsten Kulturen wird auf der ganzen Welt verstanden.
Der Kognitionsbiologe Tudor Popescu von der Universität Wien kam zu dem Schluss, dass die menschliche Musikalität somit alle Kulturen der Welt vereint. Denn in ähnlichem Kontext verwenden sie ähnliche Arten von Musik mit einheitlichen Merkmalen. Tanzmusik und Schlaflieder können beispielsweise von unterschiedlichen Kulturen ohne Vorkenntnisse der jeweiligen Sprache erkannt und richtig zugeordnet werden.
Außerdem zeigten sich in allen Kulturen Tonarten. Lieder, die zur Heilung beitragen sollen, bestehen im Vergleich zu Liebesliedern meist aus wenigen, eng beieinanderliegenden Noten. Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass es tatsächlich universelle Charakteristiken für Musik gibt, die womöglich grundlegende Gemeinsamkeiten aufweisen – eine fundamentale „menschliche Musikalität“.
Credits: Unsplash
Popescu kommentiert diese Schlussfolgerungen wie folgt: „Die menschliche Musikalität basiert grundlegend auf einer kleinen Anzahl von fixen Säulen. Also fest einprogrammierten Prädispositionen, die den Menschen durch die uralte physiologische Infrastruktur unserer gemeinsamen Biologie mitgegeben wurden. Diese musikalischen Säulen werden dann mit den Eigenheiten jeder individuellen Kultur ‚gewürzt‘, aus dem das kaleidoskopische Sortiment hervorgeht, welches wir in der Weltmusik finden.
Mit dem Zusammenrücken der Menschheit wächst auch der Wunsch, Gemeinsamkeiten in allen Aspekten unseres Verhaltens und unserer Kultur zu verstehen. Die Erkenntnisse legen nahe, dass menschliche Musikalität einen dieser gemeinsamen Aspekte menschlicher Kognition darstellt. So wie die Länder Europas in ihrer Vielfalt geeint sind, so vereint auch die Mischung der menschlichen Musikalität alle Kulturen dieses Planeten.“
#balconyconcert in Vienna @bikeandswim music is our medicine against #stayathome #coronavirus pic.twitter.com/O0ommrORvX
— Lea Widén (@leawiden) March 15, 2020
Damit hätten wir eine Erklärung, warum uns die Balkon- oder Fensterkonzerte so tief berühren. Diese vermeintlich unspektakulären Momente drücken in diesen düsteren Zeiten Freude, Optimismus und Hoffnung aus.
Dass es allerdings trotzdem noch ein paar taube Ohren gibt, die sogar eine so universelle Sprache wie Musik nicht verstehen beweist dieser Klassiker:
„Ruhe! So schen ist des net!“
Wenn Wien einen auf Italien macht… #wienliebe pic.twitter.com/D0K28MsBLy— Leila Al-Serori (@LeilaAls) March 15, 2020
Oh Wien, man muss dich und deinen sinnlosen Grant einfach lieben.
Mehr über das Fenster am Eck findest du: hier.
Titelbild Credits: Fenster am Eck
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