Sido zeigt auf seinem neuen Album eine besondere Facette seiner Kunstfigur, und zwar sich selbst als Mensch. Auf „Paul“, Sidos neuntem Studioalbum, therapiert der Künstler sich mit absoluter Offenheit. Was auf den ersten Blick wie eine Offenbarung anmutet, enthält aber im Kern eine Herangehensweise, die bei genauerer Betrachtung von Sido in der Vergangenheit bereits öfter umgesetzt wurde. Und zwar das feine Verständnis für künstlerischen Wandel in der Musik. Also die Notwendigkeit zur Weiterentwicklung als Künstler und Mensch.
Die Fähigkeit dabei sowohl die POP-Industrie als auch die Deutschrap-Szene im gleichen Maße zu unterhalten ist ein Skill, den Sido bereits seit seinen Anfängen als Künstler perfekt ausgefeilt hat. Aber genau dieser Erfolg hatte offenbar auch seine Schattenseiten. Wie ein zweischneidiges Schwert, der den Kern in Pauls Problematik stets weiter nährt, während er Sidos Dämonen stärkt. Sido wurde stärker, während Paul immer mehr in den Hintergrund rückte. Für beide war nie genug Platz da. Bis die Dämonen den Künstler wieder eingeholt hatten. Es folgten Drogenexzesse, Enttäuschungen und das Ehe-Aus. Der Teufel Kokain hatte sich in den Alltag des Musikers eingeschlichen. Vieles davon wird nun auf seinem neuen Album „Paul“ aufgearbeitet.
Paul: der Mensch hinter Sido
Wer jetzt aber bloß an einen Marketing-Move denkt, der irrt gewaltig. Denn Sido lässt mit „Paul“ einen Teil seiner Identität, als Sido endgültig zurück. Er zeigt sich authentisch, gereift und verletzlich, was für einen Künstler auch immer ein gewisses Restrisiko in sich birgt. Doch der 42-jährige Paul Würdig scheint es ernst zu meinen mit dem Versuch, seine Probleme anzugehen. Bereits die Promophase und Interviews haben sich diesmal deutlich von Sidos vorangegangenen Album-Präsentationen abgehoben.
In ehrlichen und authentischen Gesprächen erklärt Sido eindringlich, was bei ihm in den letzten Monaten und Jahren so los war und warum das Album „Paul“ für ihn essenziell überlebensnotwendig war. Dabei benennt er Einzelheiten und scheint darum bemüht zu sein, seinen Fans und der Öffentlichkeit ein Bild von dem Durchgemachten zu vermitteln. Wie er in mehreren Interviews verrät, war es das erste Mal, dass Sido von sich aus zu Universal ging und sie bat, ein neues Album machen zu können. In der Vergangenheit war das immer andersherum. Doch welchen Wandel hat Sido tatsächlich hinter sich und ist „Paul“ bloß ein Album oder der Beginn eines neuen Lebensabschnittes für den erfolgreichen Star?
Sido lässt in Interviews Paul zu Wort kommen
In der Vorlaufzeit, welche im Deutschrap als Promophase bezeichnet wird, traf sich Sido standesgemäß mit absoluten Hochkarätern des Musikjournalismus. Darunter Aria Nejati oder das Urgestein Markus Kavka, der wirkt, als wäre er eben mal kurz aus der Rente zurückgekehrt, um für das „Diffus“ das Interview zu machen.
In den langen und intensiven Gesprächen erzählt Sido seine Geschichte der jüngsten Vergangenheit. Alles chronologisch der Reihe nach wie auf einer Zeitachse bis hin zur völligen Katastrophe. Also den Punkt, an dem Paul selbst klar wurde, dass er nun ohne fremde Hilfe nicht mehr aus seinem Loch kommt. Doch bevor dieser Punkt gekommen war, musste erst mal einiges passieren. Die Rede ist hier von Drogeneskapaden in Popstar-Dimension. Drogen-sessions und flüchtigen sexuellen Begegnungen, um die innere Leere zu füllen. Dabei ist Sido, wie könnte es anders sein, laut Eigenangabe wenig schleierhaft vorgegangen. Die Partys und Sessions, die er besuchte, haben sich in der Berliner Szene herumgesprochen.
Bis sogar Musikerkollegen wie Savas, der mit diesen Sessions absolut nichts am Hut hat, von Sidos Problemen etwas mitbekam. Hier beschreibt Sido einen prägenden Moment, als er von Savas eine Sprachnachricht bekam. Darin meinte Savas, dass er sich ernsthafte Sorgen um den Gesundheitszustand seines Freundes macht und bat ihn eindringlich unter Tränen sich helfen zu lassen. Genau diese Momente waren es, die Paul Würdig ins Grübeln brachten. Jedoch stellt Sido im Gespräch mit Markus Kavka klar, dass er alleine ohne Unterstützung von außen es niemals geschafft hätte.
Hilfe von Exfrau Charlotte Würdig
Sido berichtet von einer Situation, als er bei seiner geschiedenen Ex-Partnerin Charlotte Würdig und seinen Kindern zu Besuch war. Er schlief am Nachmittag auf der Couch ein. Als er aufwachte, suchte Charlotte das direkte Gespräch. Dabei hat sie Paul seine Lage verdeutlicht und ihn noch mal auf seine Verantwortung gegenüber seinen Kindern hingewiesen. Dies war der Knackpunkt in der Abwärtsspirale.
Einige Tage später ließ sich Sido einweisen, um mit einer Drogentherapie zu beginnen. Hier beschreibt Sido weiter die Herausforderungen der Reise. Denn wenn du Sido bist, wie schaffst du es, dass Menschen die Person, also Paul sehen, ohne von der Kunstfigur geblendet zu werden? Eine Riesenherausforderung, die in Wirklichkeit nur sehr schwer klappt.
Er beschreibt, wie er durch seinen Erfolg und Superstar-status immer weniger Raum für sich als Mensch, also für Paul Würdig fand. Jede*r wollte Sido und Paul gab ihnen Sido. Irgendwann war einfach kein Raum mehr für Paul da. Dass so etwas zusätzlich zur Vorbelastung für die eigene Psyche auf Dauer nicht gesund sein kann, ist klar. Paul wurde also im Laufe der Jahre immer mehr zum Opfer von Sidos Erfolg. Die Öffentlichkeit trägt auch ihren Teil zum Problem bei. Denn das Bild des erfolgreichen und coolen Rappers wurde in der Darstellung stets in Wechselwirkung mit dem Image weiter genährt.
„Paul“ ist ehrlich, authentisch und bietet musikalische Top-Qualität
Obwohl Sido bereits in acht vorangegangenen Studioalben der Öffentlichkeit schon ziemlich viel von sich preisgegeben hat, wissen wir über den Künstler in Wirklichkeit recht wenig. Denn die verschiedenen künstlerischen Facetten betätigten bis jetzt im Endeffekt ein ähnliches Narrativ. Es gab in der Vergangenheit zwar jede Menge persönliche Tracks von Sido, dabei wurde jedoch nur an der Oberfläche gekratzt. Ganz anders als in „Paul“.
Sido hat in der Vergangenheit immer wieder Codes gestreut, aber die Problematik niemals in dieser Deutlichkeit benannt. Vielleicht hängt es auch mit dem Drogenabsturz zusammen, den Sido vor dem Album durchleben musste. Vielleicht wurde hier eine Grenze überschritten, die überschritten werden musste, damit Sido selbst merkte, dass es nicht bloß reicht, funktional zu sein und die Probleme zu betäuben.
Auf jeden Fall präsentiert der Künstler auf seinem neuen Album „Paul“ 14 musikalisch lupenreine Top-Tracks. Wie man es von einem Star seiner Größe erwartet, sind die Produktionen absolut beeindruckend. Der 42-Jährige schafft es, sich der Öffentlichkeit einerseits von einer neuen Seite zu präsentieren, andererseits einen roten Faden zu Sidos Vergangenheit zu spannen. Er stellt sich nicht hin und sagt: Ich bin nun gereift und habe meine Probleme im Griff! Nein, im Gegenteil, vielmehr benennt er seinen Superstar-Status als Teilproblematik des Struggels.
Der „neue“ Sido
Ein besonderes Stilmittel, mit dem Sido hier arbeitet, ist die Klangfarbe seiner Stimme. Gewohnt wie Sido und doch anders. Das durchlebte scheint dabei eine neue Dimension zu transportieren. Man hört das Leid in der Stimme. Keine gespielte Souveränität, aber dafür die gewohnte Lässigkeit, Dinge mit Worten, Vergleichen und Phrasen auf den Punkt zu bringen. Sido spricht in seinen Texten über seine unterschiedlichen Realitäten und die Problematiken dahinter. Das Album enthält zusätzlich viele Gesangsparts, die das Ganze in einen absolut melodischen Rahmen setzen.
Diese melodiöse Herangehensweise kannte man schon aus der Vergangenheit, aber auf „Paul“ wurde den Emotionen und emotionalen Parts noch mal ein weitaus größerer Bereich eingeräumt. Das Kontrastprogramm dazu sind die Inhalte der Texte. Hier hat Sido all seinen Schmerz aufs Papier gepackt. Der Künstler rappt über seine Fehler und Handlungen, für die er sich schämt. Diese Ehrlichkeit fungiert als künstlerischer Transmitter und ist für einen Superstar in seiner Position beeindruckend. Denn Sido hätte die Möglichkeiten, auch anders damit umzugehen. Doch er hat sich als Künstler dafür entschieden, das Ganze als einheitlichen Guss in seiner Musik zu verarbeiten.
Neue Tracks von Sido gehen unter die Haut
Als Paradebeispiel dafür fungieren die Anordnung und Inhalte der Tracks „Versager“ und „Rollender Stein“ . Auf „Versager“ kritisiert Sido seinen Vater. Und das nicht in der gewohnter Rap-Manier, also die verzweifelte Suche nach Aufmerksamkeit, um das Loch in Herzen zu stopfen. Nein, Sido scheint hier als Paul mit etwas abschließen zu wollen. Dafür nutzt er als Künstler die Wahrheit als Stilmittel.
Durch die Anordnung der Tracks bekommt das Album zusätzliche Tiefe. Denn auf „Rollender Stein“ zeigt Sido, dass obwohl ihm die Abwesenheit des Vaters zugesetzt hat, er es nicht schafft, diesen Teufelskreis nachhaltig zu durchbrechen. Das Erkennen des Problems reicht also noch nicht aus, um es zu überwältigen. Diese Ehrlichkeit bis zur Schmerzgrenze und darüber hinaus zeigt, dass der Künstler es ernst meint. Es ernst meinen muss, wenn er sich retten möchte. Sido muss Paul Raum geben. Und ich denke, dass seine Fans gerne bereit sein werden den neuen Sido inklusive Paul kennenzulernen.
Nachdem man das Album „Paul“ gehört hat, fühlt man sich nachdenklich und ist gewillt, die eigenen Problematiken zu reflektieren, aber man stellt sich auch einige Fragen: Was wird Sido tun? Wird er Paul in Ruhe leben lassen oder ihm immer wieder in den Teufelskreis aus versagen und Streben nach Glück hinunterziehen? Man kann für Sido in dem Sinne nur hoffen, dass Sido die Notwendigkeit zur Koexistenz mit Paul erfassen und umsetzen kann. Dafür scheint aber das Album ein Schritt in die absolut richtige Richtung zu sein.
Titelbild © Universal Music GmbH (Screenshot)
DAS KÖNNTE SIE AUCH INTERESSIEREN
Syannah mit neuer Single: Inspiriert, um andere zu inspirieren
Mit gerade mal 23 Jahren streckt sie bereits ihre Hand nach der großen Bühne aus – und will damit auch […]
Techno-Remix als Einstandsgeschenk: Felix Kröcher - Vision (Michael Klein Remix)
Felix Kröcher begrüßt seinen Musikerkollegen Michael Klein auf seinem Label „We Are The Night“ – standesgemäß mit einem Remix einer […]
Newcomer Nando68 mit Hommage an Wien: "Falco war ein wichtiger Einfluss"
Ein bisschen war es das Schicksal, das ihn ereilt und zum Neuanfang motiviert hatte. Denn erst durch Corona fand er […]
Interview mit Jahfro — Magnetische Dancehall Beats aus Hamburg
Es gibt Bands, die dich schon mit den ersten Beats in Bewegung bringen. Jahfro ist eine davon. Wir trafen die Ausnahmekünstler zum Gespräch.
Diskoromantik EP Release - Pop? Hip- Hop? Irgendwas dazwischen?
Die noch junge Deutschrap- Formation Diskoromantik hat seine erste EP veröffentlicht und das nehmen wir zum Anlass, die Burschen einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.
Tee und Himbeertörtchen statt Koks und Nutten - JerMc macht HipHop anders
Wiener Rapper JerMc – auch bekannt als Dyin Ernst oder Schlagobers Duck – und der luxemburgische Produzent food for thought […]