Eine KI-Studie aus Japan entfacht moralische Bedenken im Zusammenhang mit der fortschreitenden Entwicklung. Forscher der Osaka University haben künstliche Intelligenz eingesetzt, um die Gehirnaktivität von Probanden zu entschlüsseln. Anschließend konnte das Modell Bilder von dem erstellen, was die Teilnehmer*innen gerade sahen. Diese revolutionäre Forschungsarbeit sorgt für Begeisterung, löst aber auch bei einigen ein mulmiges Gefühl aus. Denn heute kann die KI das, was wir sehen, deuten. Aber wird sie schon bald in der Lage sein, unsere Gedanken zu entschlüsseln?
Stable Diffusion KI analysiert Gehirnscans der Probanden
Yu Takagi konnte seinen Augen nicht trauen. An einem Samstagnachmittag im September saß er allein an seinem Schreibtisch und beobachtete mit Staunen, wie die künstliche Intelligenz die Gehirnaktivität eines Probanden entschlüsselte und Bilder davon erstellte. Alles nur anhand von Gehirnscan-Auswertungen.
„Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich die ersten KI-generierten Bilder sah“, erzählte Takagi, ein 34-jähriger Neurowissenschaftler und Assistenzprofessor an der Osaka University, in einem Gespräch mit dem Nachrichtensender Al Jazeera.
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Takagi und sein Team verwenden dabei die sogenannte Stable Diffusion (SD) KI. Ein selbstlernendes KI-Modell, das 2022 in Deutschland entwickelt wurde. Stable Diffusion ist eine KI-Methode, die auf Informationen in einem neuronalen Netzwerk basiert, um hochwertige Bilder zu generieren. Sie ermöglicht eine Verbesserung der Bildqualität, indem sie schrittweise rauschfreie und detailreiche Bilder erzeugt.
Nachdem Takagi und sein Forschungspartner Shinji Nishimoto ein einfaches Modell entwickelt hatten, um die Gehirnaktivität in ein lesbares Format „zu übersetzen“, konnte Stable Diffusion hochwertige Bilder erzeugen, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Originalen aufwiesen.
Die KI konnte dies tun, obwohl ihr die Bilder nicht im Voraus gezeigt wurden und sie auf keine Weise darauf trainiert wurde, die Ergebnisse herzustellen. „Wir haben dieses Ergebnis wirklich nicht erwartet“, sagt Takagi. Er betont weiter, dass dieser Durchbruch zum jetzigen Zeitpunkt kein Gedankenlesen darstellt. Denn die KI kann nur Bilder produzieren, passend zu den Bildern, welche die Gehirnscans zeigen.
„Dies ist kein Gedankenlesen. Leider gibt es viele Missverständnisse in Bezug auf unsere Forschung. Wir können Vorstellungen oder Träume nicht entschlüsseln. Wir halten das noch für zu optimistisch. Aber natürlich besteht darin ein zukünftiges Potenzial“, betont er weiter.
Gefahr für den Datenschutz
Dennoch hat diese Entwicklung bereits jetzt Bedenken hinsichtlich der zukünftigen Nutzung solcher Technologien im Zusammenhang mit einer breiteren Debatte über allgemeine Risiken von KIs aufgeworfen. In den vergangenen Monaten haben führende Technologiepersönlichkeiten wie Elon Musk und Steve Wozniak, Mitbegründer von Apple, in einem offenen Brief eine Pause bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz gefordert. Sie betonten die tiefgreifenden Risiken, die diese Technologie für die Gesellschaft und die Menschheit birgt. Dieser Aufruf hat viel Aufmerksamkeit in der Tech-Gemeinschaft erregt, die von den raschen Fortschritten der KI begeistert ist.
Trotz seiner Begeisterung räumt der Neurowissenschaftler Takagi ein, dass die Ängste im Zusammenhang mit Gedankenlese-Technologie nicht unbegründet sind. Die Möglichkeit des Missbrauchs durch bösartige Personen oder Institutionen bereiten ihm Sorgen. Für ihn stehen Datenschutzfragen an erster Stelle, da die Fähigkeit einer Regierung oder Institution, die Gedanken der Menschen zu lesen, ein äußerst sensibles Thema ist. Takagi betont die Notwendigkeit weiterführender Diskussionen, um sicherzustellen, dass dies nichts geschieht. Nichtsdestotrotz sorgt die Forschung von Takagi und seinem Kollegen Nishimoto in der Tech-Gemeinschaft für viel Aufsehen.
Aufnahme bei der Conference on Computer Vision and Pattern Recognition
Die Arbeit des japanischen Forschungsteams, die nun detaillierte Ergebnisse liefert, wurde bereits in bei der Conference on Computer Vision and Pattern Recognition aufgenommen. Die CVPR ist eine weltweit führende Konferenz für Computer Vision und Mustererkennung. Jährlich versammeln sich dabei Experten, Forscher*innen und Innovatoren aus aller Welt, um die neuesten Durchbrüche und Entwicklungen in diesem Bereich zu diskutieren und zu feiern.
Die CVPR ist bekannt für strenge Peer-Review-Prozesse. Dabei werden nur die innovativsten Forschungsarbeiten ausgewählt. Die veröffentlichten Forschungsarbeiten haben einen weltweiten Einfluss und setzen den Maßstab für Exzellenz in diesem Feld. Allein diese Tatsache zeigt die Tragweite des wissenschaftlichen Durchbruchs der japanischen Teams im Bereich KI.
Skepsis gegenüber längerfristigem Einsatz
Dennoch sind Takagi und Nishimoto vorsichtig, sich von ihren Ergebnissen mitreißen zu lassen. Takagi unterstreicht die beiden die Herausforderungen für das echte Gedankenlesen: die Technologie für die Gehirnscans und die KI selbst. Obwohl es Fortschritte bei neuronalen Schnittstellen gibt, wie beispielsweise Hirncomputer, die Gehirnwellen über Elektroden erfassen und funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT), die Gehirnaktivität durch Blutflussänderungen misst.
Gehen Wissenschaftler*innen davon aus, dass es noch Jahrzehnte dauern könnte, bis wir in der Lage sind, vorgestellte visuelle Erfahrungen genau und zuverlässig zu entschlüsseln. Die Forschung von Takagi und Nishimoto erforderte lange Sitzungen von bis zu 40 Stunden in einem fMRT-Scanner. Was sowohl kostspielig als auch zeitaufwendig ist.
Im Jahr 2020 führten Forscher des Korea Advanced Institute of Science and Technology eine Studie durch, die auf ernüchternde Ergebnisse hinwies. Sie stellten fest, dass herkömmliche neuronale Schnittstellen bei der Langzeitaufzeichnung „eine mangelnde Stabilität“ aufweisen. Dies liegt an der weichen und komplexen Natur des neuronalen Gewebes, das unvorhersehbar reagiert, wenn es mit künstlichen Schnittstellen in Kontakt kommt.
Praktische Anwendungen der KI im Moment noch beschränkt
Trotz der kontinuierlichen Fortschritte der KI stößt die Forschung aber immer wieder auf Hindernisse, die ihre Entwicklung hemmen. Die Methode kann noch nicht bei neue Probanden eingesetzt werden, da sich die individuelle Gehirnstruktur unterscheidet. Es ist im Moment noch nicht möglich, ein für eine Person erstelltes Modell einfach auf eine andere Person anzuwenden. Diese komplexen Herausforderungen gilt es noch zu bewältigen, bevor die volle Bandbreite der Möglichkeiten dieser Technologie genutzt werden kann.
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Forscher wie Takagi blicken jedoch optimistisch in die Zukunft und erkennen das Potenzial für vielfältige Anwendungen im medizinischen Bereich, in der Kommunikation und sogar bei der Unterhaltung. „Es ist schwierig vorherzusagen, welche erfolgreichen klinischen Anwendungen in diesem Stadium möglich sein werden. Da wir uns noch in einer sehr frühen Phase der Forschung befinden“, erklärte Ricardo Silva, Professor für Computational Neuroscience am University College London weiter gegenüber Al Jazeera.
Er schlägt vor, dass diese Technologie möglicherweise als zusätzlicher Marker für die Erkennung des Fortschreitens von Alzheimer dienen könnte. Dabei könnte man Anomalien in der Gehirnaktivität während visueller Navigationsaufgaben eines Patienten identifiziert.
Ethische Bedenken
Silva teilt jedoch auch Bedenken hinsichtlich der Ethik von Technologien, die möglicherweise in der Zukunft für echtes Gedankenlesen verwendet werden könnten. Seiner Meinung nach ist das dringlichste Problem, dass diejenigen, die Daten sammeln, verpflichtet werden sollten, die genaue Verwendung der gesammelten Daten offenzulegen. Also all das, was derzeit nicht passiert.
Es sei eine Sache, sich möglicherweise für zukünftige klinische Anwendungen anzumelden und etwa einen Schnappschuss des eigenen Selbsttests zu machen. Es ist jedoch etwas völlig anderes, wenn diese Daten für Zwecke wie Marketing oder sogar für rechtliche Angelegenheiten verwendet werden. Also zum Einsatz kommen, gegen die eigenen Interessen einer Person kommen. Der Deckel der Büchse der Pandora ist derzeit schon leicht angelehnt. Wie weit wir dieses Tor unkontrolliert aufreißen, wird die Zukunft weisen.
„Wir arbeiten derzeit an einer deutlich fortschrittlicheren Bildrekonstruktionstechnik. Und das geschieht in einem sehr schnellen Tempo“, verrät der eifrige Wissenschaftler.
Die Leidenschaft und Entschlossenheit mutiger Forscher*innen wie Takagi haben den innovativen Fortschritt stets vorangetrieben. Aufgabe der Gesetzgeber weltweit wäre es nun, den Schutz der Bevölkerung vor möglichen Missbrauch parallel zur Forschung ebenso schnell voranzutreiben.
Titelbild © Shutterstock
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