Van der Bellen tut es. Rudi Anschober tut es. Sogar Boris Johnson hat es schon geschafft: So schwer kann eine Entschuldigung also wirklich nicht sein. Nur für unseren Lieblingskanzler scheint dieses kleine Wort undenkbar. Aber woran liegt das eigentlich? Wir verraten dir, warum da mehr dahintersteckt als jahrelanges Rhetoriktraining.
Jetzt ist schon wieder was passiert. Samstagabend im schönen Wien, es weht ein laues Lüftchen, und endlich haben die Schanigärten wieder geöffnet. Bis 23 Uhr. Dann herrscht Sperrstunde. Für alle, möchte man meinen. Doch halt: Wer ist dieses Pärchen, das da noch munter plaudernd beisammensitzt? Um – Schock, lass nach – achtzehn Minuten nach Mitternacht?!
Was es wohl kaum als Anfang in einen Brenner-Roman geschafft hätte, beschäftigt die Nation: Bundespräsident Van der Bellen und seine Frau werden nach Sperrstunde in einem Lokal erwischt. Im Gastgarten, genauer gesagt. Das Restaurant ist längst geschlossen, die Rechnung bezahlt, die Gäste blieben noch sitzen. Legal oder illegal? So klar ist das nicht. Und doch wird Van der Bellen sogleich frohlockend an den Pranger gestellt.
Ist das gerechtfertigt? Ja: Als Bundespräsident hat VdB Vorbildfunktion. Nach Sperrstunde in einem Lokal sitzenzubleiben war, ob mit oder ohne Gesetzesbruch, ein Fehler. Van der Bellen ist ein kluger Mann. Er weiß das. Und nennt es, was es ist: einen Fehler. Für den er sich “aufrichtig” entschuldigt. Natürlich macht das nichts ungeschehen. Aber es zeigt Reue. Und die Bereitschaft, aus diesem Fehler zu lernen.
Der Bundespräsident zu heutigen Medienmeldungen: „Ich bin erstmals seit dem Lockdown mit zwei Freunden & meiner Frau essen gegangen. Wir haben uns dann verplaudert und leider die Zeit übersehen. Das tut mir aufrichtig leid. Es war ein Fehler“ (1/2)
— A. Van der Bellen (@vanderbellen) May 24, 2020
Ein Gedankenexperiment
Man stelle sich vor, die Polizei hätte an jenem Samstagabend keinen gut gelaunten VdB angetroffen. Sondern unseren Bundeskanzler. Kurz ein überraschter Blick auf seinem Gesicht, der in Sekundenbruchteilen einem professionellen Lächeln weicht. Was wir dann wohl am nächsten Tag auf Twitter gelesen hätten?
Der Klassiker: “Gewisse Dinge kann man nicht planen.”
Der Retter der Nation: “Ein Gespräch, in dem es um das Wohl unseres Österreichs geht, darf nicht verschoben werden.”
Oder die Krönung der Schuldverweigerung: “Es ist die Aufgabe des Wirtes, die Gäste auf die Sperrstunde hinzuweisen.”
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Eine Frage der Menschlichkeit
Es ist die alte Leier: Kurz entschuldigt sich nicht. Nie. Schuld sind immer die anderen. Beim Ibiza-Skandal war es Tal Silberstein, das Virus haben ja eigentlich die Italiener nach Ischgl geschleppt und im Kleinwalsertal ist doch jeder selbst verantwortlich gewesen. Ach ja, und die Medienvertreter waren natürlich die wahren Regelbrecher.
Aber warum hat sich die Entschuldigung als Kurz’scher Todfeind etabliert? Warum fällt es ihm so schwer, dieses kleine Wörtchen über die Lippen zu bringen? Schließlich unterläuft auch den Klügsten unter uns mal ein Fehler: Das ist nur menschlich.
Es sind diese zwei Stichworte, mit denen wir uns einer Antwort nähern: “Fehler” und “menschlich”. Eine Entschuldigung bedeutet, einen Fehler zuzugeben. Aber Kurz macht keine Fehler. Das ist er nicht. Kurz handelt immer richtig. Denn so volksnah er sich auch gibt: Seit Beginn seiner Parteiübernahme grenzt sich unser Messias von der unvollkommenen Menschenmasse ab. Er ist fehlerfrei. Er ist ein Übermensch.
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Alles bloß Inszenierung? Ja und nein. Ja, weil natürlich auch Kurz Fehler passieren. Niemand ist vollkommen. Aber die Antwort muss ebenso Nein heißen. Wer nämlich tatsächlich an die Message des Übermenschen zu glauben scheint, ist der Inszenierende selbst.
Das bedrohte Selbst
So greift der Kanzler nach dem Kleinwalsertal-Debakel persönlich zum Telefon, um dem Chefredakteur der Kleinen Zeitung seine Schuldlosigkeit “energisch darzulegen” – nachzulesen in Patterers Newsletter. Auf dessen Antwort folgt trotz zweifellos vollem Terminkalender auch prompt eine schriftliche Rechtfertigung. Das ist mehr als ein bedenklicher Versuch, die mediale Berichterstattung zu beeinflussen. Das ist zugleich auch eine Offenlegung des Kurz’schen Selbstbilds.
Der Begriff des Todfeinds scheint in diesem Licht viel weniger überspitzt. Eine Entschuldigung ist für einen Kanzler, der an die eigene Übermenschlichkeit glaubt, natürlich unmöglich. Sie wäre das Eingeständnis seiner Fehlerhaftigkeit. Und als solche gefährdet sie seine persönliche Integrität – oder, in anderen Worten, sein Selbst.
Eine solche Persönlichkeit an der Spitze eines Landes zu haben ist problematisch. Man denke an die alte Volksweisheit: Einsicht ist der erste Weg zur Besserung. Der Umkehrschluss scheint für unseren Kanzler zuzutreffen. Nach der viel zu langen Toleranz zahlloser “Einzelfälle” schließt Kurz nicht einmal nach Ibiza eine Koalition mit der FPÖ aus. Unwahrheiten kommen ihm selbst nach gerichtlichen Verfügungen – so etwa nach dem Silberstein-Sager – noch leicht über die Lippen. Und die Schuld wird nach wie vor stets bei anderen gesucht.
Der feine Unterschied
An den Pranger gestellt reagieren sowohl Kurz als auch Van der Bellen emotional. Bei Letzterem ist es Reue, die durch die Zeilen schimmert. Er lädt ein, daran zu glauben, dass er seinen Fehler nicht wiederholen wird. Der Kanzler wiederum, wenn auch kontrolliert vor der Kamera, scheint Empörung zu spüren. Empörung und ein Empfinden von Ungerechtigkeit, dass ihm, dem Fehlerlosen, etwas vorgeworfen wird.
“Natürlich haben wir daraus gelernt”, sagt Kurz nach dem Kleinwalsertal-Szenario. Wer dieses “Wir” ist und was es gelernt haben soll, wird bequem offengelassen. Der Kanzler jedenfalls bleibt von Einsicht weit entfernt.
Titelbild Credits: Shutterstock
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