Terroranschlag als Inszenierung? Wie wir Verschwörungstheorien begegnen können

Das Attentat am Schwedenplatz hat uns alle erschüttert. Wie so viele frage ich mich: Wie kann so etwas passieren? Manche Menschen finden die Antwort in verworrenen Metanarrativen – in Verschwörungstheorien –, die den Terroranschlag mit der Coronakrise verweben. Trifft man auf solche Erklärungsmodelle, fühlt man sich oft hilflos. Wir haben versucht, Wege zu finden, um Verschwörungstheoretiker*innen entgegenzutreten.
Der letzte Abend vor dem Lockdown. Nochmal rausgehen, ein letztes Bier trinken hier in Graz, bevor alles wieder zusperrt. Ein gemütlicher Abend, den Umständen entsprechend, ein wenig melancholisch vielleicht. Dann gegen halb neun die ersten Nachrichten. Schüsse in der Wiener Innenstadt, Großeinsatz der Polizei, Videos in Whatsapp-Gruppen, es hört nicht auf. Und die Melancholie schwindet einem Gefühl der Fassungslosigkeit.
Credits: Wiener Alltagspoeten
Es scheint unbegreifbar, was sich Montagnacht in Wien ereignet hat. „Wie kann so etwas Schlimmes nur passieren?“, fragt ein Mädchen laut Wiener Alltagspoeten seine Mutter. Sie weiß es nicht. Ich auch nicht.
Noch leicht unter Schock beantworte ich Nachrichten, schreibe einem Bekannten aus Frankreich, dass es mir und meiner Familie gut geht. Er wird das Gefühl verstehen, denke ich mir. Gerade erst gab es einen Terroranschlag nahe seiner Heimatstadt. Was ist nur los mit der Welt?
Das ist eine Frage, die sich auch mein Bekannter stellt. Eine Frage, deren Antwort er nun zu finden geglaubt hat. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen, als ich seine Nachricht lese: All die Anschläge, all der Terror, es war alles inszeniert. Und zwar, so ist er sich sicher, von „den Regierungen“ selbst.
Die Macht des Netzes: Wie sich Terror in Verschwörungstheorien einfügt
So absurd den meisten von uns diese Annahme erscheinen mag: Er ist damit nicht allein. Und die nahtlose Einfügung von terroristischen Attacken in bestehende Verschwörungstheorien ist auch kein rein französisches Phänomen.
Auf sozialen Medien wie Twitter finden sich zahlreiche Beiträge dazu. Jener eines US-Amerikaners, der die jüngsten Terrorattacken in Frankreich und Österreich als einen Vorwand der Regierungen sieht, zeigt die vermeintlich logischen Rückschlüsse sehr gut: Nun könnten Kontrollmaßnahmen durch die Polizei leichter gerechtfertigt werden – „a convenient excuse“, schreibt er.
These terror attacks in France and Austria came right after these countries announced tyrannical new lockdown orders "cuz Covid."
Now they both have a convenient excuse for a massive police-state presence should the citizenry revolt against lockdowns. https://t.co/nvjUZ5BFRR
— Julian's Rum ? (@JuliansRum) November 2, 2020
Auch die Coronakrise wird in diesem Metanarrativ als Inszenierung betrachtet. Als Mittel des Staates, um stärkere Kontrolle über die Bürger*innen auszuüben. Wer angeblich dahintersteckt? Mal sind es Superreiche wie Bill Gates oder George Soros. Dann „ausnahmslos alle!!!“ Regierungen, um aus einem Telegram-Chatverlauf zu zitieren. Oder sogar Außerirdische – wie in David Ickes berühmt-berüchtigter Reptilioidentheorie.
Der surreale Charakter derartiger Theorien schreckt die meisten Menschen davon ab, sie als Alternativerklärung heranzuziehen. Doch rasend schnell verbreiten sie sich im Netz, werden immer weiterentwickelt von Communities, deren Mitglieder*innen sich gegenseitig in ihrem Glauben bestärken. Und dabei nicht nur Unwahrheiten, sondern auch rechtsextremistisches Gedankengut verbreiten.
Auf Facebook und anderen Social-Media-Seiten wird gegen Verschwörungstheoretiker-Gruppen wie etwa die von QAnon bereits verstärkt vorgegangen, auf der Messenger-Plattform Telegram nimmt das Treiben meist ungehindert seinen Lauf.
So liest man im „nichtoffiziellen“ Xavier-Naidoo-Channel am Morgen nach dem Wiener Terroranschlag, „alles“ – auch die jüngsten terroristischen Attacken – seien „inszenierte Nebenmassnahmen [sic!] der Regierungen“. Eine Annahme, die Terrorismus und Staatsführung beunruhigend nahe aneinanderrückt, ja sie beinahe verschmelzen lässt.
Die verschwörungstheoretische Essenz: Alles ist miteinander verbunden
Solche Ideen sind nicht neu. Nach dem Anschlag auf den Breitscheidplatz im Jahr 2016 analysierte der Germanist Sören Stumpf 1.800 Kommentare zu Videos auf YouTube, die Verschwörungstheorien zum Attentat enthielten. Zwei Theorien wurden laut Stumpf besonders häufig genannt. Zum einen, dass der Anschlag von der Regierung mit Schauspieler*innen inszeniert wurde. Zum anderen sei er „eigentlich im Auftrag der Bundesregierung als sogenannte False Flag ausgeführt worden“.
Einigkeit herrschte über das angebliche Ziel der vermeintlichen Inszenierung – die Regierung wolle ein Klima schaffen, „das mehr Kontrolle über die Bevölkerung legitimiert“. Die Parallelen zur aktuellen Lage sind augenscheinlich.
Wie oben beschrieben, werden die jüngsten Ereignisse scheinbar mühelos in bestehende Verschwörungstheorien integriert. Das entspricht einer der wesentlichen Eigenschaften von derartigen Erklärungsmodellen: „In einer Verschwörungstheorie ist nichts Zufall“, sagt Stumpf im Interview mit der Zeit, „nichts ist so, wie es scheint, und alles ist irgendwie miteinander verbunden.“
Es ist ein Versuch, Ereignisse oder Zustände gemeinsam „als das heimliche Wirken einer Gruppe zu erklären“ – die der Verschwörer, die aus der von ihnen veränderten Situation Profit schlagen wollen.
Verunsicherung in der Coronakrise: Wenn Verschwörungstheorien überhandnehmen
Eine Verschwörungstheorie ist also ein alternatives Erklärungsmodell für vermeintliche Ungereimtheiten, sei es in der Politik, den Medien oder der Wissenschaft. Als solche scheinen sie zunächst Sicherheit zu bieten, einen gewissen Halt in für viele unverständliche Zeiten. Sie erfüllen das zutiefst menschliche Bedürfnis, „sich Dinge auf der Welt zu erklären“, wie die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung festhält.
Plötzlich scheint sich alles ineinander zu fügen, die Welt macht wieder Sinn – und meist gibt es auch eine Gruppe von Schuldigen, der man sich vereint als „Wir“ der Verschwörungstheoretiker-Community entgegenstellt.
Dementsprechend ist es nur logisch, dass die Coronakrise mehr und mehr Menschen auf den immer länger werdenden Zug der Verschwörungstheorien aufspringen lässt. „Dass es in so einer komplexen neuen Situation wie der Coronakrise keine eindeutigen Antworten für alles und alle geben kann, ist für viele schwer auszuhalten“, wird Bernd Harder, Sprecher der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften, im Ärzteblatt zitiert. Während Expertenwissen „als uneindeutig, widersprüchlich, fluide und oftmals kontraintuitiv“ wahrgenommen wird, bieten Verschwörungstheorien leicht verständliche Antworten – die jedoch selten der Realität entsprechen.
Problematisch wird es dann, wenn Verschwörungstheorien Menschen gefährden. Wenn Coronaleugner etwa die Sicherheitsmaßnahmen ignorieren. Oder wenn Eltern ihre Kinder nicht impfen lassen, weil sie glauben, dies hätte einen Mikrochip oder eine Autismusentwicklung zur Folge.
Verschwörungstheorien können auch spalten: Häufig bauen sie auf antisemitistischem Gedankengut auf, häufig gibt es die bereits erwähnte Vernetzung mit rechtsextremen Netzwerken – der Tagesspiegel etwa berichtet darüber, wie Rechtsextremisten die Krise zur Propaganda und Radikalisierung nutzen.
Since the #Corona pandemic reached #Germany, conspiracy theories have spread like the virus. Fiction about the Coronavirus was combined with #antisemitism, for instance at protests, the organization RIAS says.https://t.co/4SE7WFsXlx
— The Berlin Spectator (@BerlinSpectator) September 9, 2020
Doch Verschwörungstheoretiker*innen leiden oft auch selbst. Die ständige Beschäftigung mit Inhalten, die den geplanten Untergang der bestehenden Welt vorhersagen, kann Angst machen – eine Angst, die die Menschen, die nach Sicherheit suchten, plötzlich hilflos zurücklässt.
Wie man Verschwörungstheoretiker*innen begegnen kann
Was kann man nun tun, wenn man im Alltag auf Verschwörungstheoretiker*innen trifft? Wenn ein guter Freund oder ein Familienmitglied plötzlich „die Regierungen“ oder gar Außerirdische an allem beschuldigt? Solche Begegnungen enden häufig in emotionalen Diskussionen – sinnlos, möchte man meinen. Doch es geht auch anders. Zumindest dann, wenn dein Gegenüber den Verschwörungstheorien noch nicht völlig verfallen ist. Wir haben uns angeschaut, wie.
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Nimm deine*n Gesprächspartner*in ernst
Ich weiß: Das kann schwerfallen. Ich weiß es aus Erfahrung. Wie soll man auch nicht mit völligem Unverständnis reagieren, wenn jemandes Vorstellungen derart dem eigenen Weltbild widersprechen? Doch eine Diskussion auf Augenhöhe kann nur bei einer Anerkennung der anderen Sichtweise stattfinden.
Du musst deinem Gegenüber nicht zustimmen. Experten für Verschwörungstheorien wie Professor Michael Butter raten sogar dezidiert davon ab, verschwörungstheoretische Annahmen zu wiederholen – gerade das könnte das Gedankengut verfestigen. Aber du kannst versuchen, dich in die Lage des anderen zu versetzen. Dessen Sorgen und Ängste zu verstehen. Das jüngste Attentat in Wien war für uns alle erschütternd. Doch wie fühlen sich jene, die statt der vorherrschenden Solidarität eine Verschwörung des eigenen Staates gegen sein Volk sehen?
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Stelle offene Fragen
Wenn du schon einmal mit einer*einem Verschwörungstheoretiker*in diskutiert hast, weißt du wahrscheinlich: Mit Fakten kommt man meist nicht weit. Wie der Sozial- und Rechtspsychologe Roland Imhoff im Gespräch mit dem SR erklärt, wird „jeder Versuch, einen vom Gegenteil zu überzeugen, als Teil der Verschwörung wahrgenommen“.
Die Argumentationstrainerin Romy Jaster rät in einem Interview mit dem ZDF daher, stattdessen offene Fragen zu stellen. Etwa: Wie kommst du zu der Annahme? Was überzeugt dich an dieser Erklärung? Im besten Fall erreichst du so, dass dein Gegenüber anfängt, selbst über das verschwörungstheoretische Modell zu reflektieren – bis Zweifel an der bislang überzeugend wirkenden Theorie aufkommen.
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Biete alternative Erklärungen an
Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, suchen häufig nach einem Gefühl der Sicherheit. Wie oben beschrieben, wünschen sie sich eine Erklärung für schwer nachvollziehbare Ereignisse – und finden diese im Verschwörungsmythos.
Laut aerzteblatt.de ist es daher wesentlich, den Mythos nicht nur abzutun, sondern eine Alternativerklärung anzubieten. Nur zu sagen: „Das ist falsch“, ist nicht genug. Es sollte erklärt werden, warum die Verschwörungstheorie nicht der Realität entspricht und wie der tatsächliche Wissensstand lautet. So gelingt es dir im besten Fall, deinem Gegenüber neuen Halt zu geben.
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Lass dich nicht von Emotionen leiten
Wie der erste Punkt ist auch dieser ein schwieriges Unterfangen. Ich erinnere mich an meine erste Debatte mit einem Verschwörungstheoretiker, in der ich meine Fassungslosigkeit über seine Ansichten nicht verbergen konnte. Doch Emotionen heizen Diskussionen an und senken deine Glaubwürdigkeit – am Ende waren wir beide aufgebracht und enttäuscht, ohne uns inhaltlich nähergekommen zu sein.
Jaster rät dazu, die Emotionen zunächst zu benennen und so „aus dem Weg zu räumen“, um sich dann voll und ganz sachlichen Inhalten widmen zu können.
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Bleib beim Thema
Ich hatte ein Interview mit David Icke zugeschickt bekommen. Schon am Anfang fällt es mir schwer, es nicht gleich wieder wegzudrücken – es geht um die Black Lives Matter-Bewegung, um eine rhetorische Täter-Opfer-Umkehr. Bemüht versuche ich, meinem virtuellen Gegenüber die Problematik dieser Rhetorik aufzuzeigen, die verwendeten Strategien nachvollziehbar zu dekonstruieren. Als Antwort auf meine minutenlange Sprachnachricht erhalte ich bloß: „Aber du weißt schon, dass Black Lives Matter von George Soros gegründet wurde?“
Dieses Diskussionsverhalten ist laut Jaster typisch – oft wird von einem Thema zum nächsten gesprungen, ohne auf das tatsächlich Gesagte einzugehen. Hier ist es wichtig, Stopp zu sagen und auf eine Antwort zu beharren: Ich sehe deinen Punkt, aber bleiben wir erstmal bei diesem Thema. So vermeidest du, dass dein Gegenüber Lücken in seiner Theorie durch raschen Themenwechsel verschwinden lässt.
Titelbild Credits: Shutterstock
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