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Von beleidigten Würstchen und absurder Meinungsbildung: Star-Choreograf als Opfer der Cancel Culture?
Der Choreograf Liam Scarlett galt als „Wunderknabe“ der Ballettwelt. Nach Vorwürfen sexueller Übergriffe wurden seine zuvor umjubelten Arbeiten weltweit aus den Aufführungslisten gestrichen. Nun ist er, im Alter von 35 Jahren, unter unklaren Umständen gestorben.
An einem anderen Beispiel sieht man, wie schnell die Cancel Cultur meinungsbilden eine Wahrheit erschafft, die als solche gar nicht existiert. Ein Schaffensprozess, der für manche Menschen äußerst böse enden kann – vielleicht war auch Liam Scarlett genau deshalb verstorben.
Der Wonderboy
Liam Scarlett (1986 – 2021) hat in seinem Leben zahlreiche hoch gelobte Ballette inszeniert. Weltweit galt er als einer der wenigen jungen Choreografen, die das Klassische mit dem Modernen verbinden konnten. Wie kein zweiter war er in der Lage, Geschichten schlüssig zu erzählen. Ein Meister darin, zeitgenössische Stoffe mit klassischen Tanz zu vereinen.
Scarlett studierte an der Royal Ballet School in London, eine der führenden Ballettschulen weltweit. Im Jahr 2005 trat er ins dortige Ballettensemble ein. Nur um sich schon nach sieben Jahren als Tänzer zurückzuziehen, um als Choreograf zu arbeiten. Der junge Liam ist zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre alt.
Er war so gut, dass im Royal Ballet eigens für ihn der Posten des Artist-in-Residence geschaffen wurde. Er galt als Aushängeschild des renommierten Londoner Ensembles und hat zahlreiche hoch gelobte Ballette geschaffen. Und zudem war er die größte Hoffnung für das klassische Ballett in England. Nun ist er im Alter von gerade einmal 35 Jahren verstorben. Was ist passiert?
Die Hintergründe eines traurigen Abgangs
Genaueres ist nicht bekannt. Aber schon im August 2019 suspendierte das Royal Ballet in London ihren Hauschoreografen Liam Scarlett. Warum? Aufgrund von Vorwürfen sexueller Belästigung von Student*innen der Royal Ballet School. Diese Vorwürfe wurden von einer unabhängigen Kommission untersucht. Doch diese kam zu dem Ergebnis, dass „diese Angelegenheit“ nicht weiter verfolgt werde. Mehr wurde nicht kommuniziert. Auch Scarlett selbst äußerte sich nicht zu dem Thema.
Es wurde also nicht öffentlich, ob es keine Verfehlung Seitens Scarlett gab oder ob diese für eine Strafverfolgung nicht schwerwiegend genug war. Wie dem auch sei. Liam Scarlett ist demnach offiziell unschuldig. Dennoch wurde er nicht mehr als Choreograf beschäftigt und die Zusammenarbeit mit dem Royal Ballet im März 2020 gekündigt. Seine Neufassung von „Schwanensee“ behielt man damals noch im Programm. Damals.
Eine Welle des Cancels
Für Scarlett wurde die Sache aber noch schlimmer. Als die „Vorgänge“ an die Öffentlichkeit gedrungen waren, reagierten Opernhausbühnen und Ballettkompanien weltweit, indem sie seine Touren absagten, die Zusammenarbeit mit ihm beendeten und sogar seine Stücke aus dem Repertoire strichen.
Der Fall des von allen Seiten in den Balletthimmel gelobten Star-Choreografen war dementsprechend tief. Liam Scarlett als Person und sein Werk wurden quasi ausgelöscht. Und das, obwohl es rein rechtlich gesehen, nicht einmal zu einer Anklage kam. Liam Scarlett ist – rechtlich gesehen! – ein gesetztestreuer Bürger mit einwandfreiem Leumund. Dass sexuelle Belästigung nicht toleriert werden sollte, ist klar. Doch sind solche Vorwürfe zugleich auch schnell in den Raum gestellt. Ob vielleicht aus Neid, Frust oder anderen Gründen. Eine differenzierte Betrachtung dieser Causa rechtfertigt zwar einen temporären Ausschluss, aber fordert zugleich auch eine gerechte Aufklärung.
Opfer der Cancel-Culture?
Obwohl seine Todesursache nicht genannt wurde, werden die Gerüchte um einen vermuteten Suizid immer lauter. Ins Rollen gebracht wurde das Ganze von einem Facebook Eintrag des Star-Tänzers Alexei Ratmansky. In diesem richtet sich der russische Ballett-Star gegen die Cancel-Culture an Bühnen und Opernhäuser weltweit.
Demnach habe Liam Scarlett gewusst, dass seine Zukunft als Choreograf vorbei ist. Sein Ruf war unwiederbringlich ruiniert. Somit waren auch sein Leben und seine Leidenschaft des Choreographierens beendet. Für immer. Und das habe ihn getötet, meint Ratmansky.
Die Cancel-Culture – Auslöschung leicht gemacht
Und ist der Ruf erst ruiniert… Die Frage, der wir uns jetzt stellen müssen ist – jenseits des rechtlichen Faktums, dass Liam Scarlett keinen Schuldspruch unterlag – inwiefern die Cancel-Culture nicht zu weit geht und ein wirkliches Problem ist. Vor allem für die Einzelmenschen, die davon betroffen sind. Wir erinnern uns an den Fall-Eminem. In diesem wurde auf Tik-Tok dazu aufgerufen, den Rap-Star zu canceln.
Eminem, mit einer sprachkünstlerischen Gegenaktion in Form eines Rap-Songs und seinen Millionen Fans im Rücken, konnte dieses Battle noch für sich entscheiden. Doch was passiert, wenn man nicht Eminem ist und keine Fans hat, die einem den Rücken stärken. Wie im Falle von Liam Scarlett, dessen Cancel-Fall nicht in der breiten Öffentlichkeit, sondern hinter verschlossenen Türen der Ballettszene verhandelt wurde. Denn das Thema Scarlett erblickte erst vor kurzem das Tageslicht einer erweiterten Wahrnehmung.
Der Cancel-Wahnsinn
Die Cancel Culture (zu Deutsch Absage- oder Löschkultur) glänzt in letzter Zeit recht häufig mit ihren exzessiven Bestrebungen zum Ausschluss von Personen, denen beleidigende oder diskriminierende Aussagen bzw. Handlungen vorgeworfen werden. Es ist wohl gemerkt nicht falsch, Straßen-Namen umzubenennen, wenn sich herausstellt, dass der Mensch, dem eine Straße ursprünglich gewidmet wurde, Anhänger einer nationalsozialistischen Ideologie gewesen ist. Das macht Sinn. Es ist auch korrekt, jemandem, der sexuell übergriffig ist, zu entlassen.
ABER ist es essenziell, dass all diese Anschuldigungen rechtlich einwandfrei bewiesen werden müssen. Denn immerhin haben wir ein Rechtssystem, das für jeden die gleichen Rechte vorbehält! Und solange nicht das Gegenteil bewiesen ist, bleibt jeder ein unschuldiger Bürger, eine unschuldige Bürgerin.
Cancel-Culture als Ausgeburt der beleidigten Würste
Angestachelt wird diese Cancel-Culture oft von Menschen bzw. Gruppierungen, die vor allem eines können, schnell wegen jeder Kleinigkeit beleidigt sein. Wir leben in einer Gesellschaft der Beleidigten. Das bedeutet, laut Simon Urban, dass immer weniger faktische Beleidigung ausreicht, um sich als beleidigt zu empfinden. Ein enormes Problem. Problematisch vor allem, da sich die Cancel-Culture oft gegen Einzelpersonen richtet, aber das gesellschaftliche Konstrukt dahinter nicht erkennt.
Ein Beispiel gefällig? Wir ändern Straßen-Namen, weil die Einzel-Menschen nach denen diese benannt wurden, Nazis waren. Gut. Doch das z.B. unser Managementsystem, die Art der Menschenführung, wie sie die Top Unternehmen handhabt, ebenfalls aus der Nazi-Zeit stammt und von deren Ideologie durchtränkt ist, bleibt unerwähnt. Und niemand kommt auf die Idee, diese Strukturen zu canceln! Oder niemand cancelt bzw. boykottiert Apple, Facebook, Google oder Amazon, weil sie keine Steuern zahlen. (Was ok ist, da sie ja gegen kein Gesetz verstoßen, sondern viel eher Gesetzeslücken für sich nutzen! Dass diese Gesetze geändert gehören und das keiner wirklich machen will, ist eine andere Sache.)
Die Cancel-Culture als Vehikel beleidigter Würstchen?
Was vielen dieser Cancel-Irren zu fehlen scheint, ist die Fähigkeit zur Reflexion. Denn, nur weil ich beleidigt bin oder etwas nicht in mein Weltbild passt, muss das jetzt nicht unbedingt ausgelöscht werden. Und wo bitte bleiben die Fakten? Vorwürfe gehören untersucht, klar. Was im Falle von Scarlett passiert ist. Doch es wurde nicht mehr weiter verfolgt. Heißt: es wurde nichts gefunden oder man hat sich geeinigt. Man weiß praktisch nichts darüber. Nur, dass ein Mensch ausgelöscht wurde, was durch öffentliche Spekulationen weiter angetrieben wurde.
Die Entscheidungen der Opernhäuser, Scarlett zu canceln, basiert nicht auf Fakten, sondern auf Vorwürfen und der Angst vor einem Shit-Storm. Einen Shit-Storm von Menschen, die nichts über Scarlett wissen und keinerlei Einblick in den Vorfall selbst hatten. Die Kommission, die seine Unschuld entschied, hatte diesen Einblick.
Diffamationskampagnen – der Fall Alice Schwarzer
„Tatort“: Veranstaltung an der Frankfurter Goethe-Universität zum muslimischen Kopftuch. Dort berührt Alice Schwarzer leicht den Arm einer Muslima. Daraufhin kommt es zum Streit. Die Frau droht mit Anzeige. (Lächerlich!) Alice Schwarzer daraufhin ironisch: „Oh, ich dachte, nur ein Mann darf Sie nicht anfassen.“ – was natürlich auch eine gewisse Form der Provokation beinhaltet.
Ein durchaus bissiger Konter auf diese wohl gemerkt lächerliche Drohung einer Anzeige, aufgrund einer leichten Berührung, die auf dem Video nicht einmal wirklich zu sehen ist. Auf einem anderen Video berührt Schwarzer eine andere Frau ebenfalls ganz leicht (Minute 1:13).
Die Übertreibung der Beleidigten
Wie dem auch sei. Bei so einer leichten und durchaus als freundschaftlich interpretierbaren Berührung aus zu ticken, ist vielleicht leicht übertrieben. Was jedoch bestimmt übertreiben ist, das ist die Hetze gegen Schwarzer, die auf dieses Intermezzo folgen sollte. Die wohl bekannteste Feministin wurde daraufhin von vielen als Rassistin in eine Ecke gestellt.
Guten Morgen,
Alice Schwarzer ist keine feministische Ikone, sondern eine Rassistin, die gestern übergriffig wurde und eine muslimische Studentin rassistisch beleidigt hat.
— megafauna (@keineparolen) May 9, 2019
Geht’s noch? Man glaubt es kaum. Klar, Alice Schwarzer könnte durchaus besser reagieren. Aber wenn man sieht wie Schwarzer umrungen ist von Leuten, die sie anpöbeln, anschreien und nicht wirklich ein seriöses und respektvolles Gespräch führen wollen, dann sieht der Kontext wieder etwas anders aus. Sie war bereit, mit den Protestierenden sachlich zu sprechen. Man kann sich vorstellen, dass es, inmitten dieses hysterischen Haufens, für sie nicht so leicht gewesen ist, Kontenance zu bewahren.
Das ist vielleicht keine Entschuldigung für ihr Verhalten. Aber wenn man permanent angepöbelt wird und die Menschen selbst einem vor dem Gesicht herumfuchteln, dann kann es schon einmal passieren, dass man einen ironischen Spruch loslässt. Und meine Güte, beleidigt zu sein, wegen einer Berührung und dann auch noch empört, wegen eines Spruches. Schwarzer als Rassistin zu beschimpfen, scheint alles andere als verhältnismäßig. Aber wie schon gesagt. Eine Kultur der Beleidigten.
Reflektiertes Abwägen statt überstürztes Canceln
Wie das feministische Magazin Emma schreibt: „Konkret: Aus ihrer Kritik am politischen Islam, dessen Opfer vor allem Millionen aufgeklärter MuslimInnen in der ganzen Welt sind, wird „Islamfeindlichkeit“. Aus ihrer Kritik am System Prostitution wird „Hurenfeindlichkeit“. Aus ihrer Kritik an dem leichtfertigen Trend, jeden Rollenbruch (wie Mädchen, die Fußball spielen oder sich in Mädchen verlieben) gleich als Transsexualität zu diagnostizieren, wird „Transfeindlichkeit“.“
By the Way: war Schwarzer selbst früher auch nicht gerade zimperlich mit nicht korrekten Darstellungen von Sachverhalten. Im berühmt gewordenen Kachelmann-Prozess, in dem der Wettermoderator Jörg Kachelmann mit dem Vorwurf der besonders schweren Vergewaltigung beladen wurde, hat Schwarzer zu dessen Ungunsten berichtet. Manche würden sogar sagen, Schwarzer hätte Kachelmann instrumentalisiert und ihn medial vorverurteilt.
Später gab es jedoch den Beweis, dass der Vorwurf gegen den Moderator wahrheitswidrig erhoben wurde. Von Kachelmanns Geliebter. Heißt: die Vorwürfe gegen ihn waren schlicht und einfach eine Lüge. Ob es beim Star-Choreographen Scarlett ebenfalls so war, werden wir wohl nie erfahren.
FAZIT
Beim Schwarzer-Beispiel sieht man deutlich, wie schnell sich die Gemüter erhitzen und Dinge ausarten. Aber Schwarzer als Rassistin hinzustellen ist überproportional, überverhältnismäßig. Und mit einer Anzeige zu drohen, für eine Berührung, die man nicht einmal wirklich sieht… Was soll man dazu noch sagen. Und wie soll Schwarzer darauf selbst anders reagieren, als mit einem (schlechten) Witz.
Klar, sie hätte sich entschuldigen können. Aber wofür? Für eine vermeintliche Berührung? Kann sie machen. Und vielleicht hätte sie es unter anderen Umständen auch getan. Doch kann man sich vorstellen, dass es nicht so lustig und einfach ist, immer nur freundlich zu sein, wenn man die ganze Zeit über mit verbaler Scheiße beworfen wird.
Man pöbelt sie an. Verlangt im Gegenzug von ihr jedoch, immer nur ruhig zu bleiben. Und da sie als öffentliche Person „ausfällig“ wird, ist der Mob dann auch sofort zur Stelle, um sie zu Kreuzigen. Und in einem nächsten Schritt sogar zu canceln. Vor allem in bestimmten Kreisen ist ihre Meinung mit Sicherheit lange schon in die ewigen Jagdgründe als blasphemisch geltender Äußerungen ge-cancelt worden.
Die Dinge laufen aus dem Ruder. Die Gesellschaft hat ein Problem. Anstatt sachlich über etwas zu diskutieren, dominieren unreflektierte Gefühlsausbrüche. Und alles was unangenehm ist und diese Emotionen entfacht, soll natürlich für immer verbannt sein. Lange ist es her, als man anderes Denken noch schätzen konnte.
Doch in einer Welt, in der wegen jeder Kleinigkeit beleidigten Würstchen, ist das wohl nicht mehr allzu gut möglich. Die Cancel-Irren haben eindeutig Probleme damit, mit anderen Meinungen bzw. ihren eigenen Empfindungen richtig umzugehen. Und werden das auch noch weiterhin haben. Der Wahnsinn geht also weiter. Ein Wahnsinn, der immer mehr (unschuldige) Opfer findet und einige von ihnen vielleicht auch in den Tod treibt.
Titelbild Credits: Shutterstock
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