Das Phänomen Achtsamkeit ist schon seit Jahren auf dem Vormarsch. Kurse, Gurus und Trainings sollen uns dabei helfen, in einen tiefen Austausch mit uns zu treten, Stress zu reduzieren und produktiver zu werden. Doch genau davor sollten wir uns hüten, meinen viele Kritiker:innen. Genauso wie Yoga und Meditation oftmals nur das eigene Ego fördern und einen Spirituellen Narzissmus heraufbeschwören, so tendiert auch die neoliberale Achtsamkeitslehre in eine ähnliche Richtung. Statt gesellschaftlichen Wandel bekommen nämlich nur eine en vogue Ich-Fixiertheit geliefert.
Achtsamkeit auf dem Vormarsch
Wie es Edgar Cabanas und Eva Illouz in ihrem empfehlenswerten Buch Das Glücksdiktat und wie es unser Leben beherrscht treffend auf den Punkt bringen, ist das Phänomen Achtsamkeit zu einem „kulturellen Großtrend“ geworden. Die Masse an Kursen, Therapien und Gurus aus diesem Segment ist in den letzten Jahren extrem stark gewachsen. So stark, dass man mittlerweile getrost von einer Achtsamkeitsindustrie sprechen darf – da sich die wachsende Nachfrage und das wachsende Angebot bei dieser unaufhaltsamen und stetigen Expansion gegenseitig die Klinke in die Hände drücken.
Ein Achtsamkeitskurs sollte somit für jeden drin sein und einen solchen sollte sich auch jede:r leisten wollen, wenn ihm oder ihr etwas an der eigenen Gesundheit liegt, so die Annahme. Sogar der österreichische Arbeitsmarktservice bietet mittlerweile schon Kurse und Trainings in diese Richtung an. Sodass sogar das – was die Berufswelt betrifft – durchaus rückständische und reaktionäre AMS diese Innovation in sein Sortiment aufgenommen hat. Die Achtsamkeit ist also in der Gesellschaft angekommen.
Achtsamkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen
© Unsplash | Mario Gogh
Doch das ist nur ein kleiner Teil. Denn das Konzept der Achtsamkeit entwickelte sich in den letzten Jahren sogar zu einem zentralen Thema im Gesundheitssektor, wie Cabanas und Illouz erläutern. Staatliche Stellen, aber auch Bildungsträger, Gesundheitsinstitutionen, das Militär und sogar Haftanstalten greifen mittlerweile das Thema Achtsamkeit auf. Zwei Highlights: Auch im Rahmen psychologischer Programme zur Behandlung von Depressionen in den ärmsten Bevölkerungsschichten (in diesem Falle bei ausgegrenzten afroamerikanischen Frauen in Chicago) taucht das Konzept Achtsamkeit auf. Sowie bei der Behandlung von Obdachlosen in Madrid.
Vor allem avancierte Achtsamkeit darüber hinaus auch zu einem vollwertigen universitären Forschungsgegenstand. Ende der 1980er Jahre wurde Achtsamkeit dort erstmals bearbeitet, doch war es eher ein Nischenphänomen. Zu Beginn dieses Jahrhunderts wurde Achtsamkeit dann noch einmal um einiges populärer. Mittlerweile ist die Anzahl der wissenschaftlichen Arbeiten über diesen Themenbereich immens gestiegen.
Von knapp 300 wissenschaftlichen Arbeiten, veröffentlicht zwischen 2000 und 2008, stieg die Zahl auf 3000 Papers zwischen 2008 und 2017. Tendenz natürlich steigend. Am erstaunlichsten ist jedoch die Tatsache, dass die Arbeiten zu dem Thema nicht mehr nur ausschließlich aus der Psychologie stammen.
Wirtschaftswissenschaft, Betriebswirtschaft und die Neurowissenschaft befassen sich mit dem Phänomen Achtsamkeit. Zeitgleich hat sich, wie schon erwähnt, die Achtsamkeit auch noch zu einem extrem lukrativen Geschäft entwickelt. Ergebnis: Jährliche Gewinne in Milliardenhöhe.
Mit Achtsamkeit Gewinne maximieren
Auch in der Arbeitswelt ist Achtsamkeit angekommen. Immer mehr multinationale Konzerne (allem voran auch Google) setzen auf Achtsamkeitsschulungen ihrer Mitarbeiter:innen. So sollen die Angestellten lernen, besser mit Stress umzugehen, anhaltende Unsicherheiten überwinden und mithilfe der Gefühlssteuerung flexibler, aber vor allem produktiver werden.
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„Wie viele verwandte Konzepte verhilft Achtsamkeit den Menschen zu einem Gefühl des Friedens, der Normalität und der Möglichkeiten in einer volatilen Marktwirtschaft.“, so Cabanas und Illouz. Doch was diese Achtsamkeitskonzepte eigentlich mitbringen, sind lediglich Techniken, die uns dazu anhalten, unsere Aufmerksamkeit ausschließlich auf uns selbst zu richten, anstatt auf die Welt um uns herum. Und das nicht immer mit den Ergebnissen, die uns die Achtsamkeits-Gurus oft versprechen.
Der achtsame Extrem-Egoismus
Wie jedes gehypte Phänomen, hat auch die Achtsamkeit neben zahlreichen Befürwortern und Bewunderinnen auch einige Kritiker:innen hervorgebracht. Einer davon wäre Ronald Purser mit seinem Buch McMindfulness. Darin warnt er uns nicht nur vor einem allzu schnellen Konsum der Spiritualität. Sondern noch um einiges beängstigender, sieht er in diesem new-age Achtsamkeitsdogma sogar den Grund dafür, warum sich in der Welt nichts (zum besseren) verändern wird.
Denn anstatt die Welt zu verändern, ist Achtsamkeit nur eine banale Form kapitalistischer Spiritualität, die soziale und politische Transformation vermeidet und den neoliberalen Status quo verstärkt. Statt gedankenvoll macht einen dieser Trend nur gedankenlos. Mindless statt mindfull, also.
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Zwei andere Kritiker:innen, Miguel Farias und Catherine Wikholm, schlagen in ihrem Buch The Buddha Pill denselben Tenor an. Sie legen dabei nahe, dass diese neoliberale Form der Achtsamkeit Depressionen und Ängste vielmehr verstärkt und die exzessive Beschäftigung mit sich selbst eine Abspaltung und Entfremdung von der Realität zu Folge hat, als eine tiefere Verbindung mit dieser zu bewirken.
Was der neoliberale Lebensansatz der Achtsamkeit eigentlich aussagt, ist, dass die Ursachen für unser Leiden (und unsere Unzufriedenheit, Erschöpfung, Stress usw.) ausschließlich in uns selbst begründet sind und nicht von den äußeren Lebensbedingungen (neoliberale Gesellschaft z.B.) abhängen.
Die Achtsamkeitsfalle oder die Legitimierung des Status Quo
Und da diese gelebte Erschöpfung und der Stress nur in uns selbst bekämpft werden können (anstatt, was näher liegt, in den Strukturen der Gesellschaft) sind wir auch allein dafür verantwortlich, ob wir uns gut fühlen oder nicht. Der Stress in unseren Leben ist also allein unsere eigene Verantwortung und die desaströsen gesellschaftlichen Verhältnisse sind somit fein raus.
Die gesellschaftlichen Bedingungen unter denen wir leben müssen, werden von der Achtsamkeitsindustrie nämlich nie in Frage gestellt. Das Leid, das wir so erfahren, wird somit „dekontextualisiert“ und die Lebensumstände als unveränderlich anerkannt.
Alles, was wir dieser These nach also tun können und dürfen, ist es, uns allein mit uns selbst zu befassen und achtsam in uns zu gehen. Aber auch das nur mit dem Ziel, produktiver zu werden. Die wirklichen strukturellen Probleme lassen wir damit außer Acht, so die Kritik.
Die Achtsamkeit und die ausschließlich private Glückseligkeit
Wie die anderen Kritiker:innen kommt auch der Autor David Forbes in seinem Buch Mindfulness and its discontents zu dem Schluss, dass die gehypte Achtsamkeit (so wie sie uns verkauft wird) meistens nur die vorherrschenden Zustände legitimiert, statt so etwas wie Transformation zu bewirken. Kritiklos werden gesellschaftliche Ungerechtigkeiten einfach so hingenommen.
Als Lösung für all die Probleme wird einem nur die Hinwendung in die eigene Innenwelt angeboten. Alleine dort sollen wir eine Art psychologischen Schalter finden, um mit der äußeren Ungewissheit und Machtlosigkeit in der real world zurechtzukommen. Und allein in uns selbst sollen wir den Weg durch eine verunsichernde Welt beschreiten.
Das Problem dabei: ein Rückzug ins Private als Lösungsansatz für steigende gesellschaftliche, globale und kollektive Probleme wird die Welt nicht wirklich besser machen. Und den Einzelmenschen auch nicht. Sondern nur noch mehr Menschen erschaffen, die sich von den wirklichen Sachverhalten abwenden und allein in sich selbst nach einem Glück suchen, das am einfachsten jedoch mit anderen Menschen zu erfahren ist.
Titelbild © Unsplash | Daniel Mingook Kim
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