Die japanische Ausnahmeautorin Mieko Kawakami hat mit ihrem zweiten Roman Brüste und Eier Weltruhm erlangt. Nun hat man endlich angefangen, auch ihre anderen Werke ins Deutsche zu übersetzen. Wir haben uns ihr „neuestes“ Buch Heaven durchgelesen. Enttäuschung ausgeschlossen. Erschütterung inklusive.
Heaven: eine Orgie der Gewalt
Das Mobbing, das der 14-jährige Ich-Erzähler in Mieko Kawakamis kleinem Meisterwerk Heaven ertragen muss, und das jede alptraumhafte Vorstellung von Nötigung, Gewalt und menschlicher Quälerei übersteigt, ist kaum zu ertragen. Eine niemals aufhörende Stimmung der Bedrohung schwebt über jedem Satz und lauert hinter jeder Seite.
Das Leben diese Jungen ist einer „permanenten Alarmbereitschaft“ unterworfen, denn seine Peiniger können jederzeit zuschlagen und das tun sie auch. Tag für Tag für Tag. Natürlich immer jenseits des Wissens und unter dem Radar unfähiger Lehrer*innen, die sich einen Dreck für das Menschliche ihrer Schüler*innen interessieren.
Er wird zum Beispiel gezwungen Kreide zu essen bis er diese erbricht. Dann soll er das Erbrochene noch auflecken. Nachdem seine Tante gestorben ist, müllt man seinen Platz zu, um ihm so „zu kondolieren“. Er wird auch als menschlicher Fußball missbraucht. Die Schilderungen dieses sogenannten „Mobbing“ – das dabei jedoch jede uns gewohnte Vorstellung davon übersteigt – ist fast schon eine Orgie der Gewalt. Was heißt hier fast? Es ist kaum noch zu ertragen.
Miekos Geschichte erzeugt, was das betrifft, eine nicht mehr auszuhaltende Spannung und zieht einen unweigerlich in das Leid der Hauptfigur hinein. Teilweise ist es wirklich „schwer“ zu lesen, doch liegt die Stärke nicht in der übertriebenen Schilderung der „Bestrafungen“ des Opfers (das wäre zu plump!). Kawakamis lakonischer und reduzierter Schreibstil fokussiert sich vielmehr darauf, die Gefahr immer präsent zu halten, auch wenn dem Helden gerade einmal nichts passiert. Hinter jeder Seite lauert praktisch eine Erniedrigung. Die Spannung aufrechtzuerhalten, ohne all Zu viel zu zeigen, von der Gewalt und doch die Gewalt fast in jedem Wort spürbar zu machen, das ist eine große Kunst, die hier erfahrbar wird.
Mieko Kawakamis Heaven: eine stille Hoffnung
Doch plötzlich gibt es Hoffnung — die brauch es immer, denn nur Hölle allein ist zu einseitig. Eine Hoffnung, mit der dieses Buch auch beginnt. Der Erzähler findet einen anonymen Brief in seinem Pult. »Wir gehören zur selben Sorte«, heißt es darin. Immer mehr und mehr dieser Briefe trudeln ein. Auf einmal ist da jemand, der ihn nach seiner Lieblingsfarbe fragt, nach seiner Leibspeise, der das Wetter kommentiert. Ein Hauch Menschlichkeit in einem Leben unerbittlicher Qualen.
Dann die Bitte, sich doch zu treffen. Er sagt zu, jedoch immer mit der Angst, es könnte sich um die Falle seiner Peiniger handeln. Doch hinter den Briefen verbirgt sich eine Klassenkameradin, die ebenfalls Opfer von Mobbing ist.
Eine Vertrautheit entsteht. Eine Freundschaft. Eine Seelenverwandtschaft in Briefform, möchte man sagen, denn in der Schule leugnen die beiden ihre Bekanntschaft geradezu mit erbitterter Konsequenz. Aus Angst natürlich, den jeweils anderen nicht noch mehr zum Ziel, zum Opfer zu machen und noch tiefer ins Mobbing-Verderben zu stürzen. Denn die Logik ist klar, wenn man nichts hat und man wird drangsaliert, was passiert dann wohl, wenn die Peiniger wissen, dass da etwas existeirt, das einem lieb und teuer ist. Kaum auszudenken, die Konsequenzen.
Ein Hin und Her aus Glück und Unglück
Das Leben spaltet sich plötzlich auf. In die Phasen des Missbrauchs und die geheimen Momente der Glückseligkeit. Gesäumt wird dieses Zwischenspiel von einer philosophisch geradezu fesselnden Komponente: Während der Erzähler unter dem Leid, das ihm zugefügt wird immer mehr zerbricht, verfolgt seine geheime Freundin Kojima einen ganz anderen Ansatz. Hinter ihrem Opfertum ortet sie eine Form des Besonderen, die anderen quälen nur, weil der Held und Kojima anders sind und die Normalen dieses Außergewöhnliche eben einfach nicht ertragen können.
Langsam, aber gekonnt – wie Albert Camus zu seiner Zeit – lässt Mieko Kawakami in einem ihrer frühen, aber erst jetzt übersetzen Werke, philosophische Denkansätze einfließen, die wirklich spannend zu lesen sind, aber ganz ohne die uns bekannte Arroganz auskommen und sich geradezu organisch in die Dialoge und die Geschichte fügen. Uns nicht mit Fingerzeig belehren wollen, sondern präsent über der Erzählung schweben, im Hintergrund.
Mieko Kawakami: unerträglich lesenswert
Dennoch ist das Buch fast schon unerträglich zu lesen. Man liest permanent zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit hin und her, her und hin, vermutet hinter jeder nächsten Seite so etwas wie Vernichtung, Selbstmord, Tod, Vergeltung oder sogar ein Happy End.
Die Quälereien sind leider so gut und eindringlich geschildert, dass man als Lesende*r praktisch permanent nach Rache dürstet, in die Geschichte phasenweise einsteigen und die Handlung irgendwie gottgleich lenken will. Doch dann gibt es da diesen Erzähler, der alles nur über sich ergehen lässt.
Von diesem Buch bekommt man vieles: Verstörung, Unbarmherzigkeit, Gefühllosigkeit, Hass. Aber auch Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Freundschaft, Trost. Ein Hin und Her. Ein Widerspruch? Das Sanfte und das Harte. Schläge und Liebkosung. Ausgrenzung und Umarmung. Hoffnung und Hoffnungslosigkeit.
Selten hat es ein Buch geschafft, das Komplexe des Menschseins, den Wahnsinn, Irrsinn, aber auch die Liebe, so gekonnt zusammen zu erzählen wie hier.
Titelbild © Shutterstock
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