Spiritueller Narzissmus: Wenn Yoga, Meditation und Co nur das Ego fördern

Jede:r strebt in einer gewissen Form nach gesellschaftlicher oder sozialer Anerkennung. Das Ego füttern zu wollen, resultiert aus unserer zunehmend narzisstischen Gesellschaft und bringt im Extremfall Symptome wie Gier, übertriebenes Streben nach einem höheren sozialen Status und auch fehlende Solidarität hervor. Dem versuchen sich spirituelle Menschen zu entziehen – Yoga, Meditation und weitere spirituelle Praktiken sollen zum Auflösen von egozentrischen Tendenzen führen. Aktuelle Studien zeigen jedoch, dass vor allem in der westlichen Praxis häufig das Gegenteil der Fall ist. Die Bezeichnung für das Phänomen: spiritueller Narzissmus.
Narzissmus hat viele Formen. Bekannt im Alltag vor allem durch narzisstischen Missbrauch oder beispielweise durch Pick Up Artists. Aber in einer Form war sie lange nicht in Studien erfasst. Ob nun der humanistische Psychologe Scott Barry Kaufman oder auch der Professor für kulturvergleichende Sozial- und Persönlichkeitspsychologie Jochen E. Gebauer beschäftigen sich mit dem Phänomen des spirituellen Narzissmus. Dabei klären sie Begriffe wie den kommunalen Narzissmus oder die spirituelle Überlegenheit – und wahrscheinlich wirst du hier auch manche deiner Freund:innen wiedererkennen.
Konformität in Zeiten des übertriebenen Individualismus
Buddha sagte einst: „Wenn deine Einsicht meiner Lehre widerspricht, so sollst du deiner Einsicht folgen.“ So individuell wir Menschen sind, so sehr unterscheiden sich auch unsere Wege zu einem höheren Selbst. Stattdessen findet die Masse aber Konformität in populären spirituellen Praktiken – Individualismus adé.
Der Zeitgeist findet sich aktuell im Yoga, was in seiner Lehre natürlich ein immenses Potenzial zur Selbstverwirklichung und -erkenntnis birgt. Jedoch kann der Schuss nach hinten losgehen – falsche Motive, Überheblichkeit und vorschnelle Urteile über „die anderen“ als Resultat des sogenannten spirituellen Weges.
Nun bestätigen dies sogar Studien. Diese hatte Scott Barry Kaufman in einem wissenschaftlichen Essay zusammengefasst und zeigt damit auf, welch Wellen das Phänomen schlägt. Führt es letztlich doch genau dazu, dass es statt zu einer Reduktion zu einer Verstärkung des Egos kommt. Und davon profitiert mittlerweile auch eine Milliarden-Industrie – SUV fahrende Yogis zeigen das Absurdum.
Doch dem widmen wir uns heute nicht. Viel mehr möchten wir aufzeigen, wie es dazu kommt, dass Menschen denken, sie begingen den Weg der Erleuchtung, und dabei dem Ego zum Opfer fallen. Denn spiritueller Narzissmus ist ein reines Produkt des Egos.
…nach meiner Lektüre der Yoga-Literatur scheint es nicht so, als ob die theoretische Absicht des Yoga in erster Linie darin besteht, dass körperlich attraktive Menschen mit Stolz ihre Fähigkeit zeigen, sich in eine Brezel zu verwandeln.
Danke für das Zitat an Scott B. Kaufman
— Fabian Petschnig (@FabiDoe) December 20, 2021
Was ist spiritueller Narzissmus?
Der Begriff Narzissmus beschreibt im alltagspsychologischen Gebrauch Selbstverliebtheit oder auch Selbstbewunderung. In Kombination mit der Spiritualität ergibt sich eine im Zusammenhang mit dem persönlichen oder weltanschaulichen Glauben stehende Selbstzentriertheit. In der verfälschten Selbstwahrnehmung des spirituellen Narzissmus glauben Betroffene paradoxerweise, sie seien durch ihre Praktiken im Ego beruhigt, während sie gleichzeitig über den anderen zu stehen glauben.
„Selbstverbesserung durch spirituelle Praktiken kann uns dazu bringen, zu denken, dass wir uns entwickeln und wachsen, obwohl wir in Wirklichkeit nur unser Ego zum Wachsen bringen.“, schreibt Scott Barry Kaufman dazu in seiner digitalen Abhandlung.
So folgt die langfristige Motivation zur selbstverwirklichenden Praxis mehr dem Prinzip der Selbstzentriertheit statt der Auflösung des Egos. Das „Ich bin erleuchtet und du nicht“-Syndrom – wie es Kaufman beschreibt – mündet wiederum im schlimmsten Fall in einem spirituellen Bypass. Somit schlägt der Ursprungsgedanke ins absolute Gegenteil aus.
Der spirituelle Bypass – oder die Vermeidung, sich selbst zu begegnen
Bereits 2011 erfasste eine Studie den spirituellen Bypass und beschäftigte sich mit dem aufkeimenden Trend, sich unbewusst durch fehlgeleitete Sinnsuche selbst zu verleugnen. Die von Craig S. Cashwell und weiteren durchgeführte Untersuchung zeigt die Problematik, dass es „angesichts der zunehmenden Aufmerksamkeit für Spiritualität“ wichtig ist, „sich einer potenziellen Falle des spirituellen Weges bewusst zu sein“. Mit diesen Fallen meinen sie genauer, dass Menschen spirituelle Praktiken nutzen, um sich ihren echten emotionalen Problemen oder psychologischen Komplikationen zu entziehen. Statt diese also aufzulösen, hält man sie mit Hilfe des spirituellen Weges nur in Schach.
Spiritueller Narzissmus: Yoga als reine Selbstoptimierung
Neben Cashwell beschäftigt sich auch der Psychologe Jochen E. Gebauer intensiv mit den negativen Nebenerscheinungen der im Trend liegenden Spiritualität. In seiner Studie „Mind-Body Practices and the Self: Yoga and Meditation Do Not Quiet the Ego but Instead Boost Self-Enhancement“ (deutsch: Geist-Körper-Praktiken und das Selbst: Yoga und Meditation beruhigen das Ego nicht, sondern fördern stattdessen die Selbstverbesserung) greift er das Zusammenspiel des Selbstoptimierungswahns und des spirituellen Weges auf. Dabei kam die Studie zu in der Realität für viele beobachtbaren Ergebnissen.
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In mehreren Experimenten begleitete die Studie Yoga-Schüler:innen und beobachtete deren Entwicklung. Wichtig hierbei: Es ging vorwiegend um westlich geprägte Praktiken. Dies trug erstaunliche Phänomene zu Tage. Neben den Ergebnissen zum spirituellen Narzissmus fanden die Studienleiter:innen bei den Untersuchungen beispielsweise heraus, „dass die Wohlfahrtsvorteile dieser spirituellen Praxis tatsächlich durch die Stärkung des Selbstwertgefühls und nicht durch die Beruhigung des Egos entstehen können.“ Sprich, auch die vorgenommenen Wohltaten für andere durch ein besseres „Ich“ nähren nicht vom Guten, sondern von der besseren Positionierung seiner Selbst.
Die Selbstverbesserung spielt also eine maßgebliche Rolle. Das Motiv sind demnach nicht die Vorteile für Körper und Geist, sowie auch die „Reduktion des Egos“. Vielmehr steht für die Praktizierenden die Selbstoptimierung im Vordergrund. Dies ist zwar nicht zwingend etwas Negatives – führt aber in weiterer Folge nicht selten zur sogenannten „spirituellen Überlegenheit“, die wohl eher als Überheblichkeit zu verstehen ist.
Spirituelle Überlegenheit: eine Form der egozentrischen Überheblichkeit
Diesen Überlegenheitsgefühlen spirituell Praktizierender ist womöglich jede:r von uns schon einmal im direkten oder indirekten Umfeld begegnet. Auch bei Religionen ist dies zu beobachten. Eine Studie der Radboud-Universität Nijmegen bestätigte die These: „Es wird angenommen, dass spirituelles Training die Selbstverbesserung reduziert, kann aber den paradoxen Effekt haben, Überlegenheitsgefühle zu stärken.“
Ein wenig überraschender Fun Fact der Studie: „Die energetischen Heiler schnitten auch besonders wahrscheinlich hoch in ‚übernatürlicher Selbstüberschätzung‘ ab.“
Und ich glaubte, dass für diesen „energetisch gelichteten Heiler“, das materielle nur eine untergeordnete Rolle spielt.
— Rainer Geißler (@RaiGeLah) October 23, 2021
Im Verlauf der Studie interviewten die zwei Studienleiter Roos Vonk and Anouk Visser verschiedene Psychologinnen und Psychologen, spirituell Lehrende sowie auch Laien und fassten in sechs Punkten die Merkmale der sogenannten „spiritual superiority“ zusammen:
- Ich bin mir Dinge bewusst, die anderen nicht bewusst sind
- Ich bin mehr mit meinen Sinnen verbunden als die meisten anderen
- Mein Bewusstsein, was zwischen Himmel und Erde ist, ist größer als das der meisten Menschen
- Aufgrund meiner Ausbildung und Erfahrung bin ich aufmerksam und sehe Dinge, die andere übersehen
- Aufgrund meines Hintergrunds und meiner Erfahrungen habe ich mehr Kontakt zu meinem Körper als andere Menschen
- Die Welt wäre ein besserer Ort, wenn auch andere die Einsichten hätten, die ich jetzt habe
Grundsätzlich münden spirituelle Praktiken aber nicht zwingend in einem spirituellen Narzissmus. Dank der Studie sind jedoch die Parameter zusammengefasst, die diese Form des kommunalen Narzissmus als solchen beschreiben und belegen. Das Problem liegt laut dem Psychologen Scott Barry Kaufman nämlich nicht im gesunden Selbstwertgefühl, sondern im ungesunden Streben nach Selbstwertgefühl. Und dort beginne auch der Narzissmus. Statt das Selbstwertgefühl als Ziel zu verfolgen, sollten Menschen einfach authentisch die Selbstbeherrschung erlernen. Egal, ob mit oder ohne spirituelle Praktiken.
Gesunde Transzendenz statt spiritueller Narzissmus
Die Lösung ist so einfach und kompliziert zugleich. Gleichmut und Güte, statt Überheblichkeit und Arroganz. Aber in der Praxis scheitert die Umsetzung gar nicht so selten, obwohl eigentlich genau diese positiven Werte jenen Philosophien immanent ist, die zum spirituellen Narzissmus führen. Im Grunde bedarf es ständiger Relfexionsbereitschaft. Egal, wie gut man ist. Egal, wie weit man sein mag. Denn gerade „Erleuchtete“ würden sich wohl niemals über andere stellen. Ganz im Gegenteil.
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