Den Laien gelingt eine Abgrenzung nur selten – klar, haben wir doch meist einzig oberflächliche und triviale Anhaltspunkte, um uns zu orientieren. Beinahe trendy, sich als Opfer von Narzissten zu bezeichnen, fällen wir ein Urteil häufig vorschnell. Obwohl die narzisstische Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 nur unter „Sonstige spezifische Persönlichkeitsstörungen“ geführt und nicht weiter charakterisiert wird, fällt in der Praxis die Diagnose sehr leichtfertig. In derselben Rubrik (F 60.8) findet sich unter anderem auch die Unreife Persönlichkeitsstörung. Diese ähnelt in einigen Punkten dem pathologischen Narzissmus. Demgegenüber gibt es aber eklatante Unterschiede und Symptome, die einerseits im Ursprung der Störung und andererseits in ihren charakteristischen Eigenschaften liegen.
Sobald in einer Beziehung einer der Partner einen eher unschönen Umgang mit Konfliktsituationen pflegt, Diskussionen aus dem Weg geht, es an Selbstreflexion fehlt oder dieser sehr impulsiv ist, dann fällt nicht selten das Urteil „Narzissmus“. Es gleicht einem Trend, leichtfertig jemanden als Narzisstin oder Narzissten abzustempeln. Vielfach steckt dahinter aber eine andere Persönlichkeitsstörung – nämlich die unreife Persönlichkeitsstörung.
Abgrenzungsschwierigkeiten bei sonstigen spezifischen Persönlichkeitsstörungen
Natürlich weisen Persönlichkeitsstörungen spezifische Merkmale auf, doch haben sie nicht selten auch Überschneidungen. Die klare Abgrenzung erschwert sich dadurch. Zudem gehen manchmal auch mehrere Persönlichkeitsstörungen Hand in Hand – eine sogenannte Komorbidität. Diese stellen auch die Therapeutinnen und Therapeuten vor besondere Herausforderungen.
Im Falle der narzisstischen Persönlichkeitsstörung wäre beispielsweise das Wechselspiel aus Lovebombing und Gaslighting ein Merkmal zur klaren Zuordnung. Jedoch befinden sich die Grenzen innerhalb des narzisstischen Spektrum – also der narzisstischen Persönlichkeitsstörung und des Narzissmus – in der Forschung und der Psychologie in ständiger Bewegung. Genauso fluide wie die Grenzen innerhalb eines Störungsbildes verhalten sich auch jene, zu den anderen Störungsbildern.
So zeigt sich beispielsweise die fehlende Reflexions- und Lernbereitschaft von Narzisstinnen und Narzissten ebenso bei Menschen mit einer unreifen Persönlichkeitsstörung. Dies könnte zu einem falschen und vorschnellen Urteil führen. Und wie schon bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung sollte auch bei der unreifen nicht automatisch jede unreife Person leichtfertig mit einer Störung diagnostiziert werden.
Was ist die unreife Persönlichkeitsstörung und was zeichnet sie aus?
Wie bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung kommen Drama, Impulsivität und übermäßige Emotionalität bei den Menschen mit unreifer Persönlichkeitsstörung zum Vorschein. Durch die Popularität des Narzissmus fällt daher nicht selten ein falsches Urteil. Jedoch zeigt sich auch bei der unreifen Persönlichkeitsstörung vor allem in Beziehungen ein toxisches Bild. Denn durch ihre Ausformulierung zieht dieses Störungsbild Verhaltensweisen mit sich, die nicht nur Betroffenen sondern vor allem auch nahestehenden Personen schaden.
Denn ebenso bei der „unreifen Persönlichkeit“ zeigen sich Verletzungen der Freiheiten anderer, weshalb es hier eine Überschneidung mit der narzisstischen Persönlichkeitsstörung gibt. Der Ursprung in der Persönlichkeit liegt aber woanders. Nämlich in einer gewissen Form der stetigen Abhängigkeit von anderen – hier ergibt sich wiederum eine Ähnlichkeit zur abhängigen Persönlichkeitsstörung.
Ursachen der unreifen Persönlichkeitsstörung
Während die Ursachen der narzisstischen Persönlichkeitsstörung zumeist in fehlenden Grenzen, einer unabdingbaren Verknüpfung von Leistung und Belohnung, sowie fehlender Wärme oder materieller Verwöhnung liegen, liegen die Ursachen einer unreifen Persönlichkeitsstörung zumeist in einer neurobiologischen Unreife des Gehirns, in einem Kindheitstrauma oder in der Erziehung. Letzteres ist der Fall, wenn Eltern die natürliche Abnabelung des Kindes unterbinden. Und damit die sich entwickelnde Unabhängigkeit stören. Mit Bestrafung unabhängigen Verhaltens und der Belohnung von einer gelebten Abhängigkeit beziehungsweise Anpassung an die Eltern verstärkt sich das Störungsbild und festigt sich nachhaltig.
Bezeichnend für eine unreife Persönlichkeitsstörung ist – wie der Name schon verrät – eine Persönlichkeit in Entwicklung. Also eine, deren mentales Alter nicht dem biologischen entspricht. Kindisch, kindlich, unreif, teils aggressiv und meist wenig resilient. Insgesamt definierte der spanische Psychiater und emeritierte Professor für Psychiatrie an der Universität von Extremadura, Enrique Rojas, 10 Eigenschaften einer unreifen Persönlichkeit.
Definition der unreifen Persönlichkeitsstörung: 10 Eigenschaften
- Divergenz zwischen dem biologischen und dem mentalen Alter
- Fehlende Selbstkenntnis
- Emotionale Instabilität
- Geringes Verantwortungsgefühl
- Mangelnder Realitätssinn
- Fehlende Lebensstrukturen
- Emotionale Unreife
- Intellektuelle Unreife
- Geringe Willenskraft
- Instabile ethische und moralische Maßstäbe
1. Divergenz zwischen dem biologischen und dem mentalen Alter
Wie die unreife Persönlichkeitsstörung bereits in ihrem Namen beinhaltet, ist eine der markantesten Eigenschaften der tiefe Graben zwischen biologischem und mentalem Alter. Die Verhaltensweisen, die Betroffene an den Tag legen, entsprechen nicht ihrer zu erwartenden Reife. Trivial als kindisch oder unreif bezeichnet, spiegelt die eingenommene Rolle nicht jene wider, die der Person im Regelfall gerecht wäre. Ähnlich dem Peter Pan Syndrom. Statt des fehlenden Willens zum Erwachsenwerden steht bei der unreifen Persönlichkeitsstörung aber vielmehr die grundlegend fehlende Reife eine tragende Rolle.
Hier überschneiden sich viele weitere Punkte, die sich unter diesem zusammenfassend wiederfinden. Der Umgang mit Herausforderungen, Konfliktsituationen oder im Allgemeinen erwachsenen Lebenssituationen entspricht eher dem von Kindern. Dies zeichnet sich zusätzlich durch fehlende Lern- und Reflexionsbereitschaft aus, wie in den weiteren Punkten im Detail angeführt. Daher kommt es auch zu einer geminderten Beziehungsfähigkeit – weshalb die alltägliche Fehldiagnose Narzissmus nicht selten fällt.
2. Fehlende Selbstkenntnis: Unreife Persönlichkeitsstörung vernebelt
Selbstbewusstsein und Selbstkenntnis spielen bei vielen Persönlichkeitsstörungen eine tragende Rolle. Die Wahrnehmung des Selbst ist entscheidend für den Umgang mit der Umwelt. Selbstkenntnis erleichtert es uns, auch andere zu verstehen – Stichwort: Menschenkenntnis. Die falsche Wahrnehmung von Erfolgen und Misserfolgen im Leben führt gleichwohl zu einer gestörten psychischen Bildung und Formung des Selbstbewusstseins.
Das führt dazu, dass fehlende Empathie und Engstirnigkeit im sozialen Austausch zutage kommen. Durch das Fehlen der Kenntnis, welche Eigenschaften, Fähigkeiten und Grenzen man selbst hat, fehlt folglich das Navigationssystem für den Umgang mit anderen.
3. Emotionale Instabilität
Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Die Gefühlsschwankungen können innerhalb kürzester Zeit auf und ab gehen. Durch die emotionale Instabilität sind Menschen mit der unreifen Persönlichkeitsstörung für ihr Umfeld oft unberechenbar. Impulsives Verhalten und Launenhaftigkeit stehen an der Tagesordnung.
Den Betroffenen beschert der Umstand der emotionalen Instabilität selbst ein Leben gleich einer Achterbahnfahrt. Es ist nicht so, dass Personen mit der unreifen Persönlichkeitsstörung grundsätzlich jemandem schaden wollen – durch ihr Verhalten tun sie dies aber. Einerseits sich selbst. Andererseits auch ihrer Umwelt.
4. Geringes Verantwortungsgefühl: Unreife Persönlichkeitsstörung und die immerwährende Flucht
Die Realität nicht wahrhaben wollen – das trifft wohl auf viele zu. Die unreife Persönlichkeitsstörung lässt aber Betroffene in solch einem Fall die radikale Flucht antreten. Dies kann vor allem in einer zwischenmenschlichen Beziehung für viel Frust sorgen. Das fehlende Verantwortungsgefühl führt nämlich dazu, dass der Rückzug statt der Selbstreflexion gewählt wird. Und Konflikte so nicht gesund auszutragen sind, sondern Betroffene diese verschleppen oder ihnen aus dem Weg gehen.
Die unreife Persönlichkeitsstörung impliziert eine falsche Wahrnehmung der eigenen Realität. Dies beinhaltet eben auch, dass Betroffene nicht erkennen, wofür sie sich verantwortlich zeigen sollten. Denn, sich der eigenen Realität bewusst zu sein, bedeutet zugleich auch die Qualitäten, Möglichkeiten und Forderungen zu erkennen, die einem selbst zugehörig sind – ohne sich selbst zu verleugnen oder sich über andere zu stellen.
5. Mangelnder Realitätssinn
Die bereits genannte falsche Wahrnehmung der Realität ergibt eine falsche Einschätzung seiner selbst und der Umgebung. Dadurch schaffen es Betroffene nur selten, ein angemessenes Distanz- oder Näheverhältnis aufzubauen oder gar zu bewahren. Denn die Harmonie zwischen ihnen und ihrer Umgebung ist durch die gestörte Sicht nicht gegeben.
Dadurch bilden sich nicht selten toxische Verhältnisse in zwischenmenschlichen Beziehungen. Dies liegt nicht minder daran, dass Menschen mit der unreifen Persönlichkeitsstörung Situationen falsch bewerten. Dies kann vielerlei Ausprägungen haben.
6. Fehlende Lebensstrukturen
Den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen, birgt Gefahren. Die unreife Persönlichkeitsstörung bringt aber genau das mit sich. Nämlich immerwährende Improvisation. Statt einem ungefähren Plan zu folgen, stellen sich Betroffene spontan dem Alltag. Dies sorgt nicht selten für ein Ungleichgewicht im Leben. Dieses schadet den Betroffenen selbst, aber auch dem unmittelbaren Umfeld.
Im Leben braucht es eine Balance aus Arbeit, Kultur und Umfeld, sowie Liebe und sozialer Interaktion. Diese ist aber beim bloßen Hineinleben in den Tag nicht wirklich gegeben. Daher entstehen unbewusst Unsicherheiten für alle Beteiligten. Zudem fehlen auch häufig Lebensziele, die bei Erreichen oder Nicht-Erreichen für Motivation und Antrieb sorgen.
7. Unreife Persönlichkeitsstörung und emotionale Unreife
Durch die mangelnde affektive Reife haben Betroffene der unreifen Persönlichkeitsstörung kein richtiges Verständnis dafür, wie das emotionale Leben strukturiert sein sollte und worin die Essenz desselben besteht. Dieses fehlende Verständnis sorgt dafür, dass in zwischenmenschlichen Beziehungen einerseits eine emotionale Abhängigkeit entsteht, andererseits aufrichtige Gefühle nur selten existieren. Weil diese eben nicht auf Liebe, sondern auf einer Notwendigkeit von Stabilität und Sicherheit – ähnlich der von Eltern – basieren.
Somit bringen Konfliktsituationen in Partnerschaften mit unreifen Persönlichkeiten viel Instabilität in die Beziehung. Es kann viele Facetten haben. Einseitigkeit in der Betrachtung, Flucht, fehlende Selbstreflexion, temperamentvolle Ausbrüche der Unsicherheit und des Unverständnisses.
8. Intellektuelle Unreife
Neben den Emotionen ist auch der Intellekt ein wichtiges Werkzeug unserer Psyche. Die unreife Persönlichkeitsstörung bringt auch in Fragen der Intelligenz nicht selten eine Unreife mit sich. Analyse, Reflexion, Visionen und Planung – all das kann Betroffenen fehlen.
Durch das Fehlen der intellektuellen Reife kommen Impulsivität und unüberlegte Entscheidungen zutage. Dies verhindert das persönliche Wachstum. Und wirkt sich ebenso maßgeblich auf zwischenmenschliche Beziehungen aus.
9. Geringe Willenskraft: Unreife Persönlichkeitsstörung macht unzuverlässig
Nicht nur fehlende Ziele und ausbleibende Struktur stellen sich in den Lebensweg Betroffener. Die unreife Persönlichkeitsstörung bringt nach Enrique Rojas auch eine geringe Willenskraft mit sich. „Die Willenskraft ist der Schmuck, der reife Personen ziert.“
Auch dieses Charakteristikum schadet Betroffenen und dem Umfeld. Denn durch die Unfähigkeit, beispielsweise Nein zu sagen oder ein Projekt bis zum Ende durchzuziehen, berauben sich unreife Persönlichkeiten ihrer Lebensessenz und nicht selten auch der Lebensfreude. Sich geschlagen geben und einzig Impulsen zu folgen, bringt Projekte stets ins Stocken.
Für das Umfeld bedeutet das unbeständige Wesen, dass man sich auf Betroffene nicht verlassen kann. In einer Beziehung bedeutet dies wiederum viel Unsicherheit.
10. Instabile ethische und moralische Maßstäbe
Als Resultat und Zusammenkunft vieler genannter Punkte scheinen die schwankenden moralischen Grundsätze eine logische Konsequenz zu sein. Wie ein Fähnchen im Wind scheinen Menschen mit der unreifen Persönlichkeitsstörung auch in dieser Hinsicht keine Stabilität zu besitzen. Statt kritischen Denkens und auch nach beständigen Maßstäben gerichtete Selbstreflexion findet man Relativierung und Leichtfertigkeit.
Bilder © Shutterstock
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