Parallele Kunstgesellschaft und ein Andrew Stix: „Der Wille ist stark, das Fleisch ist schwach“

Der exzentrische Pop-Art-Künstler Andrew Stix eckt gerne an, abgerundet mit einer ordentlichen Portion Gesellschaftskritik in seiner Kunst. Wen die Sucht nach mehr heimsucht, der musste von ihm schon den ein oder anderen Seitenhieb einstecken. Nun holt er zum Rundumschlag aus und greift eine Sache an, in der wir alle gefangen sind – das digitale Zeitalter und all seine Schattenseiten. Im Hintergrund schwebt die Kritik an der Kunstszene und den etablierten Verkaufsformen mit. Wir geben einen Ausblick auf seine aktuelle Werkserie und seine kommende Ausstellung Anfang Juni in einer ungewöhnlichen und zugleich außergewöhnlichen Location.
Spätberufen und doch genau da, wo er eben hingehört. Immer woanders, aber stets mit der Kunst. Andrew Stix belebt Räume. Alle paar Jahre einen anderen. Weil er gehen muss. Manchmal, weil Kunst nicht den Platz hat, den sie verdient. Manchmal, weil es ihn einfach weiterzieht. Inzwischen wieder einmal gelandet. In einer unglaublichen Location in den Tiefen des 14. Bezirks Wiens. Viel lässt er noch nicht raus – aber so viel sei verraten. Mehrere Ebenen, viel Platz, unvorstellbares Potenzial und die erste Freske. Dort findet auch seine nächste Ausstellung statt.
Ja, in der Tat hatten wir uns hier eine kleine Lüge erlaubt, aber wir wollten diese Location doch ihrer Aufmachung gerecht in Szene setzen:
Das digitale Zeitalter im Fokus der Stix’schen Kritik
Verzerrung der Realität. Die neue Werkserie von Andrew Stix spiegelt das wider, was jeden Tag auf sozialen Medien passiert. Aber auch in unseren Köpfen – die subjektiven Perspektiven, Realitäten und Wahrnehmungen.
„Ursprung ist eigentlich das Höhlengleichnis von Platon. Durch das bin ich in diese Welt eingetaucht, in diese Schattenwelt. Und wenn man das Gleichnis kennt und das auf heute überträgt, dann sieht man, dass die Höhlenwand des Gleichnisses heute das Display des Handys ist.“
Ein Exkurs in das Höhlengleichnis Platons
Das Höhlengleichnis ist eine erzählerische Darstellung, die sich bildlich mit dem Lernvorgang von Menschen auseinandersetzt. In einer Höhle leben Gefangene, die dort gefesselt ihr gesamtes Leben verbracht haben. Sitzend, an Schenkel und Nacken so angebunden, dass sie sich nicht umdrehen können. Somit bildet die Wand vor ihnen ihre Realität – sich selbst oder die anderen Gefangenen können sie ebenfalls nicht sehen. Von dem, was hinter ihnen passiert, haben sie keine Kenntnis. Durch eine hinter ihnen befindliche Lichtquelle werden Schattenfiguren auf die Wand vor ihnen projiziert.
Bildliche Darstellung des Höhlengleichnis | © 4edges, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Im Gedankenexperiment wird einer der Gefangenen befreit und dazu genötigt, sich der Realität hinter sich zuzuwenden. Schmerzhaft vom Licht geblendet und verwirrt, könnte der Befreite erstmal nicht fassen, was er sieht. Weil das Gesehene in keiner Weise seine Realität widerspiegelt, hat der Befreite erstmal das Bedürfnis, seine eigentliche Position wieder einzunehmen.
Zwänge man diesen jedoch, die Höhle zu verlassen, würde er erstmalig die Gegenstände sehen, die die Schatten werfen und dessen Abbild er nur kannte. Kurz gesagt erkennt der Befreite Stück für Stück die bisher unbekannte Umgebung und schlussendlich, dass ohne Sonne kein Leben möglich wäre und diese über allem steht.
Mit der Freude über die Kenntnis der Wahrheit möchte der Gefangene nicht mehr in die Höhle zurück. Müsste er dies jedoch, würde er in der Dunkelheit nichts mehr erkennen. Bei der Begutachtung der Schatten käme es deshalb zu einem schlechten Abschneiden, weshalb die anderen Gefangenen glaubten, dass sich der Befreite die Augen verdorben hätte. Versuchte jemand, sie zu befreien, würden sich die Gefangenen wehren, weil sie glauben, dass es sich nicht lohnt, nach draußen zu gehen. Sie würden sogar die Person versuchen umzubringen, wenn sie könnten.
Somit bildet das Höhlengleichnis ein Abbild der zahlreichen subjektiven Realitäten, weshalb es auch heute noch zeitgemäß ist. Wir können abseits unserer eigenen Wirklichkeit nur die Abbilder subjektiver Realitäten wahrnehmen – vergleichbar mit den Ausschnitten aus den Leben der Anderen auf sozialen Medien. Phänomene wie Toxic Positivity, aber auch Essstörungen sowie Body Dismorphic Disorder können einige der zahlreichen Folgen sein.
Zurück zur Kunst von Andrew Stix
Das Handy und das Internet bilden die Hauptziele in der Kunstserie von Andrew Stix. „Durch sie bilden sich praktisch bei jedem Menschen eigene Realitäten, weil jede:r nur noch Zugriff auf seine Themen und seine eigene Bubble hat. Es prägt die Wirklichkeit einer jeden Person. Und sperrt sie ein, ohne dass diese es wirklich begreift.“ Während wir uns alle also innerhalb unseres Horizonts bewegen, beeinflussen uns zudem die unserer Realität zugehörigen anderen Realitäten. Und engen uns langsam weiter ein. Statt den Horizont zu erweitern, schmälert sich dieser langsam aber sicher.
„Gewisse Medien empfinden wir beispielsweise als falsch, weil wir wissen, dass sie Propaganda sind. Aber bewegst du dich einmal in bestimmten Foren oder in einem bestimmten Umfeld, wirkt sich die falsche Sozialisierung eben auf deinen Kopf aus. Und dadurch schaffst du dir in deinem Kopf eine eigene Realität, weil du sie plötzlich als wahr empfindest.“
Sich ständig zu hinterfragen, gehört zum Alltag des Künstlers. Andrew Stix hatte bereits mit seiner letzten Ausstellung „More, More, More“ sein eigenes Leben und das vieler anderer infrage gestellt. „Wir sind süchtig nach mehr, mehr, mehr. Wir hören einfach nicht auf, selbst wenn es uns gut geht.“ Reduzierter jetzt im eigenen Leben, besonnen auf das Schaffen, so hat er dem Treiben in der Szene langsam den Rücken gekehrt. Nicht erst die Corona-Krise brachte den Bruch. Aber mit der Abkehr von den üblichen Kreisläufen der Kunstszene kam bei ihm auch der freie Kopf für dieses nächste und so umfangreiche Thema.
Digitalisierung, Scheinwelten, Realität: „Wir sind lange auf der Wohlfühl-Oberfläche geschwommen“
„Wenn man es genau nimmt, ist die einzige Maßnahme, die hilft, um diesen ganzen Wahnsinn der Wirklichkeit aufzuhalten, Einschränkung – egal ob es um das Klima oder auch die Wirtschaft geht. Das Prinzip des ewigen Wachstums kippt. Die Welt wird zusehends unwirtlicher.“ Von den individuellen Realitäten schwenkt Andrew Stix bewusst zu den Problemen, die wir alle gemeinsam lösen müssen, aber von denen wir durch die digitale Welt abgelenkt werden. Egal, ob diese Probleme nun Teil unserer direkten und eigenen Realität sind oder eben nur die Realität, die wir nicht wahrnehmen, beziehungsweise verleugnen.
Die Schmier- und Farbwand in der neuen Location von Andrew Stix
Durch die vielen schrecklichen Ereignisse flüchtet der Mensch und entwickelt sich zu einem „Wirklichkeits-Zombie“, wie es der Künstler nennt. „Das Metaverse wird diese Flucht nochmals intensiveren. Aktuell passiert das ja schon, aber die Zukunft hält da noch einiges bereit. Wir haben laufend wachsende psychische Belastung durch Kriege, Krisen und Kurac (Anm. d. Red.: Penis, eine Art zu fluchen). Die Wirklichkeit wird also immer unschöner und unangenehmer, während der virtuelle und digitale Raum sich mit mehr und mehr Zauberwelten füllt.“
Und während wir in Bezug auf das Klima und den Wirtschaftskrisen lange auf der Wohlfühloberfläche schwammen, verkriechen wir uns jetzt – wo es immer auswegloser scheint – in unsere digitale Höhle. Hier ahnt Andrew Stix nichts Gutes. „Die digitale Welt ist böse. Sie verzerrt unsere Realität. Lenkt ab. Vermittelt uns falsche Wahrheiten. Dagegen müssen wir etwas tun. Das Internet und ganz speziell Google oder Facebook wissen, wie du tickst. Und passen sich an deine Komfortzone an. Das ist gefährlich.“
Diese verzerrte Realität und auch die Komfortzone sind es, die sich stark in der aktuellen Serie von Andrew Stix widerspiegelt, die er Anfang Juni bei seiner nächsten Ausstellung zeigt. „Dieses Übertriebene, Verzerrte, diese andere Wirklichkeit ist eine Zukunftsvision, die zum Teil bereits Realität ist. Es wird immer verzerrter. Bis unsere Körper nur noch ein Relikt aus der Vergangenheit sind, die wir mitschleppen. Während wir der Wirklichkeit entfliehen. Somit ist das Verzerrte mehr Realität als die Wirklichkeit selbst.“
Und die Kunst sieht tatenlos zu?
Andrew Stix spricht der Kunst keineswegs gänzlich ab, dass sie ihre Aufgaben erfüllt. Dennoch sieht er auch hier eine zunehmende Kapitalisierung. „Also, wenn sich ein Künstler nicht mehr mit dem Geschehen um ihn herum beschäftigt, wie immer er es ausdrückt, verfehlt er zum Teil seine Aufgabe. Denn liegt einerseits darin, die Realität als Reflektor wiederzugeben und andererseits Visionen zu entwickeln – ob nun realistische oder unrealistische. Anklagend, Alternativen aufzeigend oder eben das Ganze verarbeitend in seinen Werken.“
Das System frisst seine Künstler:innen. Oder genauer Kapitalismus. Aber auch der Überlebensinstinkt darin. „Das ist Super-Kapitalismus gemischt mit Super-Egoismus. Künstler sind ja angeblich auch Menschen, die uns erklären sollen, wie man die Gesellschaft aufbaut. Wie sollen die das können, wenn sie nur eines im Schädel haben? Geld. Die Kunst zieht mit dem System mit und ist vielfach nur noch Business.“
Der „Dekorations-Wahnsinn“ weicht zusehends der Kritik, wenn es nach Andrew Stix geht. „Jetzt in der Krise sehen wir so viele Schwachpunkte. So viele Fehler in diesem System. Es gibt aktuell genug Beweise dafür. Sei es die Korruption oder eben die gesellschaftlichen Strukturen – es gäbe genug, das man kritisieren kann. Also, es ist ja nicht mehr so, dass wir jetzt philosophieren müssen, ob unsere Gesellschaft so funktioniert oder nicht, sondern wir haben die Beweise auf dem Tisch.“
Die Krise braucht Kunst: „Jetzt erst recht“
Hinter diesem Vorhang verbirgt sich das neugeschaffene Werk des Andrew Stix
Solange die Kunstwerke den Wert besitzen und nicht die Künstler:innen selbst, geht es mit den Inhalten der Kunst bergab. Jede:r strebt nach Käufen und Verkäufen, während die Künstler:innen in einer Produktionsschleife gefangen sind. „Sobald du einzig über das Werk redest, geht es ums Geld. Wie viel Geld zahlst oder bekommst du dafür? Daran wird deine Wertigkeit gemessen. Und diese wird vom Markt bestimmt.“
So ist es eben mit Teufelskreisen. Bist du einmal drin, ist das mit dem Rauskommen eher schwierig. Was wäre also, würde man nicht mehr das Bild kaufen, sondern mit dem Erhalt des Bildes laufend die Künstler:innen fördern würde; gleich einer Miete? „Kunstwerke sind ein Teil des Investmentbereichs. Diesen Drive musst du rausnehmen. Die Wertschätzung des Künstlers geht verloren. Er soll aber für seine Arbeit entlohnt werden.“ Stattdessen verdient sich der Verkäufer eines im Preis gestiegenen Bildes ein goldenes Näschen. Die Künstler:innen aber bleiben mit leeren Händen auf der Strecke. „Würdest du aber stattdessen auch nur 50 € im Monat an den Künstler zahlen, wenn du ein Bild von ihm aufhängst, dann förderst du wirklich seine Kunst.“
Und diese Kunst braucht es in Zeiten wie diesen. Nicht Kunst, die erfreut und sich verkauft. Sondern Kunst, die bewegt. „Und dann haben Künstler auch die Zeit, sich weiterzuentwickeln und Neues zu schaffen.“ Wie es eben Andrew Stix in den letzten zwei Jahren getan hat. Also verpasst nicht seine Ausstellung im Juni – wir halten euch diesbezüglich am Laufenden.
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