Neurodivergente Revolution am Arbeitsmarkt: AMAZING 15-Gründerin im Gespräch
Der derzeitige Arbeitsmarkt zeigt einen deutlichen Vorteil der Arbeitnehmenden gegenüber den Arbeitgebenden und fordert von letzteren mehr Flexibilität. Zeitgleich herrscht auch ein Fachkräftemangel, der dazu führt, dass viele Unternehmen um eine begrenzte Anzahl fähiger Mitarbeiter*innen ringen. Mitten in diesen Umbruch hinein, denkt die Jobvermittlungsagentur AMAZING 15 die Arbeitswelt neu und hat sich auf die Vermittlung neurodivergenter Menschen an geeignete Stellen spezialisiert. Mit Erfolg! Wir trafen die visionäre Gründerin Anna Marton zu einem Gespräch über Neurodivergenz als Chance für Wirtschaft und Gesellschaft.
Anthony Hopkins und das Geheimnis hinter den Türen
Auf über drei Stockwerke erstreckt sich das Büro von Amazing 15. Dem geschulten Auge eines Filmfans fällt sofort auf, dass jeder Raum nach berühmten Persönlichkeiten benannt ist.
Du bist der Erste, der es gesehen hat, cool. Ich danke dir. Die Persönlichkeiten hinter diesen Namen liegen alle im neurodivergenten Spektrum. Wir haben eine Liste von über 150 Personen gehabt und mussten uns als Team festlegen, welche Namen wir nehmen. 84 Menschen in unserem Team sind im neurodivergenten Spektrum, das heißt wir haben den Weltschnitt umgelegt. Der Rest ist neurotypisch. Aber das ist ein anderes Thema. Wir wollten abstimmen, welchen Namen bekommt welcher Raum. Und die Autisten haben das gut durchdacht, denn die meinten, dass wir hauptsächlich Leute nehmen sollten, die schon tot sind, damit wir niemandes Rufes schädigen.
Aber Anthony Hopkins lebt ja noch …
Dann haben aber wir ADHSler gesagt, dass das zu umständlich wäre, da man so viel Geschichte kennen müsste. Und so kam dann ein Mix zustande von Personen, die noch leben, und für Besonderheiten stehen. Einen Stock tiefer gibt es einen Raum, der keine Fenster hat und klein ist und der hat den Namen Temple Grandin zugeteilt bekommen – sie ist eine Autistin, die die Nutztierhaltung analysiert und erkannt hat, dass eine Kuh besseres Fleisch, bessere Gesundheitswerte und überhaupt bessere Züchtungsergebnisse erzielt, wenn sie Tageslicht und genug Platz hat. Brandon hat sich gegen die Massentierhaltung in Ställen ohne Fenster eingesetzt und ist bei uns daher Namensgeberin für den Raum ohne Tageslicht geworden, weil sie von so einem Ort aus ihre Vision gestartet hat, sozusagen.
Und Anthony Hopkins?
Dieser Raum hat etwas Unheimliches, egal wie viel Deko wir da reinhauen (lacht!).
Anthony Hopkins hat ja einen ganz eigenen Ansatz bei seiner Schauspielerei. Er lernt seine Texte geradezu exzessiv auswendig, nur um diese dann zu variieren und mit entsprechender Mimik und Gestik zu ergänzen. Man sieht, dass er alle an die Wand spielt, aber was macht er genau, aus der Perspektive des Spektrums heraus?
Ich versuche dir das technisch zu erklären. Für Menschen im Autismus-Spektrum, wie eben auch für Anthony Hopkins, ist soziale Interaktion eine Herausforderung. Gesprochenes Wort, Sprachmelodie und Mimik sind in dessen Wahrnehmung, aber auch in jener aller anderer Autistin*en in drei unterschiedliche Informationskanäle unterteilt, die erst einzeln verarbeitet und dann später in Kleinarbeit mühsam wieder zusammengeführt werden. Deshalb kann Anthony Hopkins mit den Dialogen so gut umgehen, weil er zwischenmenschliche Interaktionen in seinem Leben unendliche Male, genauso unterteilt, erfahren hat und in tausend sozialen Interaktionen genau daran gescheitert ist. Im Nachhinein hat er sich aber vermutlich immer gefragt, warum er genau gescheitert ist. Aus diesem Prozess heraus hat sich sein Schauspielansatz höchstwahrscheinlich entwickelt und genau deshalb ist bei ihm vermutlich alles so extrem gut durchdacht und konstruiert.
Neurodivergenz und der Arbeitsmarkt
Neurodivergenz ist wohl das Schlagwort bzw. Thema der jüngeren Zeit. Über 1.500.000 Menschen in Österreich fallen ins neurodivergente Spektrum (Autismus, ADHS, Legasthenie, Dyskalkulie, Dyspraxie). Was bedeutete das für den Arbeitsmarkt im Allgemeinen und für den Fachkräftemangel im Speziellen?
Auch wenn oftmals als Nachteil interpretiert, bringen neurodivergente Menschen in Wirklichkeit herausragende Stärken mit sich. Deren Gehirne und Reizverarbeitungen arbeiten anders. Sie sind von Geburt an Troubleshooter. Das bedeutet, dass diese Menschen über eine extrem hohe Lösungskompetenz verfügen.
All jene, die Neurodivergenz immer noch als Problem sehen, sollten wissen, dass alle Menschen unterschiedliche Begabungen haben und Neurodivergenz ein vollkommen natürliches Vorkommen ist, eine natürliche Variation der Gene. Wenn Neurodivergenz nämlich nur ein Schwächen-Profil wäre, dann wären wir neurodivergenten Menschen schon längst ausgestorben, das regelt nämlich die Evolution sehr genau. 450 Jahre vor Christus hat Hippokrates das erste Mal Neurodivergenz dokumentiert. Wenn wir behindert wären und nutzlos für die Gesellschaft, hätte man uns damals schon aus den Dörfern oder Stämmen ausgeschlossen, wir hätten das Recht auf Fortpflanzung verwehrt bekommen und wären ausgestorben. Dem ist aber nicht so, seit vielen 1000 Jahren nicht. Dem ist nicht so, weil wir neurodivergenten Menschen enorme Gamechanger sind und man mit uns sehr viel erreichen kann.
Wieso ist diese Tatsache vielen Arbeitgebenden leider immer noch nicht bekannt?
Menschen im ADHS-Spektrum sind eher Jäger. In der Art, wie wir in der Globalisierung arbeiten, braucht es jedoch eher so etwas wie Farmer. Worin liegt der Unterschied? Der Jäger plant einen Jagdzug. Der Farmer züchtet jedoch, bestellt Felder und pflegt das Tier. Doch warum sollten Jäger das tun? Warum züchten und Jahre warten, jeden Morgen aufstehen, wo draußen doch die Hirsche genau jetzt ausgewachsen sind. Für manche ist dieser Farming-Ansatz natürlich genau das Richtige. Doch für Innovation ist das Profil des Jägers entscheidend. Wir neurodivergenten Menschen gehen voraus, probieren Dinge aus und lernen, damit andere leichter auf unseren Wegen gehen können. Deshalb sind auch 60 Prozent der Start-up-Entrepreneure neurodivergent und 30 Prozent der Selfmade-Millionäre, weil sich auf diese Weise manchmal richtig viel Geld verdienen lässt.
Und auf den Fachkräftemangel angesprochen: 50 Prozent von den 1,5 Millionen neurodivergenten Menschen arbeiten bereits in Unternehmen. Doch niemand weiß, dass sie neuriodivergent sind. Genau deshalb werden ihre Fähigkeiten auch nicht richtig eingesetzt. Denn wenn dem so wäre, dann würde das eine jede Produktentwicklung vorantreiben und mehr Innovation bringen. Wenn du eine neurodivergente Person im Team hast, und dir das bekannt ist, dann hast du ein Potenzial, das es zu nutzen gilt.
Fähigketien bleiben oft unerkannt
Warum werden die Fähigkeiten dieser neurodivergenten Mitarbeiter*innen aber nicht gesehen?
Weil die Stärken der neurodivergenten Menschen in dem antiquierten Recruiting-Verfahren, auf das viele Unternehmen zurückgreifen, einfach nicht berücksichtigt werden. Aber auch, weil viele neurodivergente Menschen über ihre Begabung nicht sprechen oder selbst gar nicht wissen, dass sie so außergewöhnlich sind. Viele ahnen zwar, dass sie im Spektrum sind, haben aber den Weg gewählt, sich keine Diagnose zu holen, weil ein Großteil der Gesellschaft Neurodivergenz immer noch als Behinderung sieht.
Wie kann man das ändern?
Indem man die Menschen einfach machen lässt oder mit uns zusammenarbeitet. Wir ermitteln Stärken-Profile und diese sind auch datenbasiert, weil viele uns nicht glauben, wie talentiert neurodivergente Menschen in bestimmten Bereichen wirklich sind. Dann gibt es ein zweiwöchiges Assessment, wo die neurodivergente Person erkennt, wie gut sie im Vergleich zu dem Durchschnitts-Österreicher ist.
Neurodivergenz als Chance: eine Frage der Vermittlung
AMAZING 15 hat es sich zum Ziel gemacht, möglichst vielen neurodivergenten Menschen den Weg zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Wie gelingt es Ihnen, die Unternehmen davon zu überzeugen, Neurodivergenz als Chance und nicht als Risiko zu begreifen?
Wenn du als Unternehmer*in neurodivergente Menschen eingestellt hast und weißt, wer diese sind, dann weißt du auch, was die alles können. Wenn du jedoch noch nicht bereit bist, deinen neurodivergenten Mitarbeiter*innen zu vertrauen, dann kannst du auch mit externen Dienstleistern zusammenarbeiten – also mit uns. Du kannst Projekte an uns auslagern und wir bewältigen das. Und dann erlebst und siehst du, wie stark neurodivergente Angestellte für das Ergebnis stehen.
Wie funktioniert dieser Prozess der Vermittlung genau?
Wir von AMAZING 15 sind ein two-sided Market. Einerseits ist da die Person im Spektrum, die über uns einen Job finden möchte und wir helfen ihr dabei. Andererseits machen wir Personalvermittlung und helfen Unternehmen gezielt, bestimmte Stellen zu besetzen. Stellen, bei denen es eine hohe Fluktuation gibt oder Unternehmen es nicht schaffen diese zu besetzen. Wir vermitteln natürlich nur Personen, die im ersten Arbeitsmarkt bestehen können. Darüber hinaus begleiten wir Führungskräfte und Unternehmen im On Boarding mit Workshops. Dabei beantworten wir Fragen und geben Tipps, wie man mit neurodivergenten Menschen umgehen soll.
Wie erfolgreich ist AMAZING 15 mit dieser Form der Vermittlung
Wir dokumentieren in zweieinhalb Wochen die Fähigkeiten einer Person. Logisch analytisches Denken, arbeiten unter Zeitdruck, Musteererkennung, Fehlererkennung, Konzentration, Toleranz gegenüber repetitiven Aufgaben und vieles mehr. Und diese Skillcard verwenden wir später fürs Matching auf eine bestimmte Stelle. Mit Erfolg! Denn 96 Prozent der Vermittlungen, die wir machen, sind nach 4 Jahren noch in diesem Job, weil das eben genau passt.
Ich kann natürlich noch weitere Referenzen nennen. Es ist zum Beispiel bewiesen, dass neurodivergente Softwaretester nachhaltig 30 Prozent bessere Ergebnisse liefern als neurotypische Softwaretester. Ein weiteres Erfolgsbeispiel: Einer von unseren Absolventen war sich nicht sicher, ob er gut genug ist. Dieser zweifelnde Absolvent unseres Kurses, mit einem Hauptschulabschluss und 12 Jahren ohne berufliche Stimulation, kam im Test unter die Top 10 Prozent der Softwaretester in Österreich und ist heute der drittbeste in seinem Unternehmen.
Er wusste gar nicht, dass er so gut ist?
Das eine ist, dass die Personen ihre Fähigkeiten selbst gar nicht erkennen. Was wir gut können, fällt uns nicht auf, weil wir es so gut können, dass es schnell einmal vom Tisch ist. Was schwierig fällt, damit beschäftigen wir uns ziemlich lange. Deshalb sprechen wir eher davon, was wir nicht können. Ein Fehler.
Neurodivergenz als Asset
Haben Sie einen Ratschlag für die Unternehmen da draußen?
Wenn du als Unternehmen außergewöhnliche Talente suchst, dann bist du falsch gepolt, wenn du versucht, durchschnittliche Menschen für außerordentliche Aufgaben zu finden. Um überdurchschnittliche Leistungen zu erzielen, dafür darfst du nicht normal sein. Undurchschnittlichkeit ist erforderlich, um überdurchschnittliche Ergebnisse zu erzielen. Es ist dabei egal, welchen Background jemand mitbringt, denn wir von AMAZING 15 finden heraus, wo die Stärken dieser Person genau liegen. Das gilt auch für Führungskräfte und Unternehmen, die wir darauf vorbereiten, wie sie die außergewöhnlichen Mitarbeiter*innen, die sie bereits haben, halten können.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Was ich mir wünschen würde ist, dass wir früher Richtung Diagnose gehen, weniger von Stigmatisierung sondern mehr von Stärken-Profilen sprechen – bei allen Menschen. Und dass wir von jeder dieser vermeintlichen Erkrankungen oder Herausforderungen, den eigentlichen Wert und das Potenzial für uns als Gesellschaft sehen, denn aus meiner Sicht produzieren wir aus gut gemeiner Vorsicht und Achtsamkeit, viel zu viele Verlierer*innen in unserem System, um als Wirtschaftsstandort oder als Unternehmen gewinnen zu können.
Ich habe AMAZING 15 gegründet, weil wir amazing 15 Prozent sind, und das ist verdammt viel, in jeder Bildungsschicht, in jeder Kultur. Wir können unglaubliches leisten und fabelhafte Ergebnisse erzielen. Es gibt amazing Jobs, amazing Unternehmen und amazing Führungskräfte, die Wege bereiten und echte Karrieren schaffen oder schon geschafft haben und es gibt amazing 15 Menschen, die in Unternehmen tätig sind und beweisen, was wir neurodivergenten Menschen alles draufhaben.
Titelbild © AMAZING 15
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