Aleš Štegers, der wohl bekannteste slowenische Autor – zusammen mit Drago Jančar –, nimmt uns mit auf eine lyrisch-psychedelische Reise in sein Innerstes. Drei Tage und drei Nächte lang schrieb er sich psychotherapeutisch an den Rand seines Seins. Atemprotokolle ist eine Art Zen-Buddhistisch-lyrischer Rausch, den man unbedingt mitmachen sollte.
Aleš Štegers Atemprotokolle: lyrische Odyssee ins Innerste
Wichtige Information vorweg: Wer sich klassische Gedichte erwartet, wird von Aleš Štegers Atemprotokollen vielleicht kurz enttäuscht sein. Nur um dann jedoch schnell zu erkennen, dass der bekannteste slowenische Autor seiner Generation, anstatt mit Lyrik zu unterhalten, uns vielmehr mitnimmt auf eine lyrische Odyssee in sein tiefstes Innerstes.
Zen-buddhistisch angehauchte Meditationen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umhüllen uns, ohne dabei zu stark in eine religiöse Lektionslehre zu verfallen. In ihren Zen-Versuchen gleiten viele Autorinnen und Autoren zu oft eine Moralpredigt ab, wo sie den Lesenden erklären wollen, wie diese zu leben haben.
Aleš Šteger zentriert seine Niederschrift der Innerlichkeit, welche er innerhalb von drei Tagen und drei Nächten geschrieben haben soll, auf das, was bei einem anständigen Trip wirklich wichtig ist – ob literarisch oder anderweitig – das eigene Selbst.
Aleš Šteger: die unermüdliche lyrische Quelle
Geradezu unermüdlich schöpft Aleš Šteger seine lyrische Quelle aus und gibt sie uns schlückchenweise zu trinken. Seine Worte sind Wasser, die unseren Durst nach hervorragender Lyrik stillen, wie es der vorzüglichste Wein nicht anders tun könnte. Reduziert auf einen lyrischen Existenzialismus erforscht Šteger sein Innerstes, während wir zwischen den Zeilen versuchen, die Momente zu rekonstruieren, die zu diesen Sätzen geführt haben.
Denn die Vorbemerkungen von Atemprotokolle sind herausfordernd. Dort schreibt er von einer Reise nach Innen und von zwei Schamanen, die seine Reise begleiten. Auch wenn er es nie erwähnt, so bekommt man in den Gedichten immer wieder das Gefühl, der Autor hätte irgendwelche Hilfsmittel verwendet, um diese Zustände, die er beschreibt, zu erreichen. Ist Atemprotokolle am Ende eine halluzinogene Reise unter Ayuasca oder einer anderen bewusstseinserweiternden Droge?
Atemprotokolle: dokumentiertes Schreibexperiment
Das Buch ist in zwei Teile aufgeteilt, wobei der kürzere zweite Teil kleine „Sprachscherben“ aus mehr als einem Jahrzehnt versammelt, während der erste Teil das Protokoll von Štegers Schreibexperiment dokumentiert. Die Begleitnotizen geben uns keine Informationen darüber, wie sehr der Autor nachträglich an der Form gearbeitet hat. Sein Ziel ist es, eine unmittelbare Wirkung zu erzielen, daher ist es wohl am besten, sich in Štegers Atemprotokollen zu verlieren.
Was Aleš Štegers Atemprotokolle von seinen früheren Gedichtbänden unterscheidet, ist paradoxerweise gerade deren Atemlosigkeit, wie Dirk Hohnsträter erklärt. Hier rollen die Sätze wie Wellen aufeinander, oftmals ohne die Möglichkeit eines Innehaltens. Wie in einer Art Traktat werden Aussagen lyrisch stimmig aneinandergereiht, wobei sie oftmals ein ganzes Leben umspannen. Es ist, als ob der slowenische Autor versucht, uns einen direkten Zugang zu seinem Denken, zum Prozess des lyrischen Schreibens zu ermöglichen.
Aleš Štegers Atemprotokolle: ein halluzinogener Genuss
Die Lektüre dieses Buches ist ein halluzinogener Genuss. Man wird mit einem Stakkato kaum zusammenhängender Behauptungen konfrontiert. Und dennoch erliest man sich einen stimmigen Zusammenhang. Trotz der Sprunghaftigkeit der Bilder entsteht eine wohlige Ruhe im Lesenden. Man darf jemandem zusehen, wie er in sein Innerstes reist und dieses kompromisslos offenbart und offenlegt.
Štegers radikal subjektive Schreibweise ist dabei natürlich auch eine Herausforderung. Abseits der Konventionen spürt er nur seinem eigenen Selbst nach. Auf so etwas muss man sich einlassen können, wie auf einen Trip. Man muss vertrauen und bereit sein, einem anderen vorbehaltlos zu folgen und sich dabei auch bewusst sein, dass dieser in seinem Rausch ins Innere keine Rücksicht auf uns nehmen kann. Warum sollte er das auch, geht es ihm doch um die vorbehaltlose Auseinandersetzung mit seinem eigenen Selbst, seinem eigenen Leben.
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Im lyrischen Rausch
Es mag Lesende auch irritieren und sogar überfordern, wenn sie erkennen, dass in einem Erzählen, kein Platz für sie ist. So kann Štegers Atemprotokolle auch als egomanische Gedankenkaskade interpretiert werden. Doch im Grunde ist sein Buch eine Art psychische Reinigung. Und wir haben hier das Glück, das Privileg sogar, jemanden bei seiner psychotherapeutischen Erforschung seines Selbst zusehen zu dürfen.
Und da menschliches nur allzu menschlich ist, werden wir in seinen Erkenntnissen auch sehr oft an unsere eigenen Herausforderungen stoßen. Auch wenn wir als Lesende nie mitgedacht werden, so werden wir doch auch Teil dieser Nabelschau. Atemprotokolle ist der Beweis, dass literarisches Schaffen nichts anders ist, als ein Rausch. Ein Rausch, den Aleš Šteger wunderbar authentisch auf Papier gebannt hat.
Titelbild © Wallstein Verlag
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