Eine Gesellschaft vertritt in sich viele verschiedene Meinungen. Doch es gibt Meinungen, die fern jeglicher Fakten existieren und ein Verhalten legitimieren sollen, das so vom Rest der Gesellschaft nicht akzeptiert werden darf. Anhand einer Geschichte möchte ich klarmachen, warum es eine Null-Toleranz gegen „alternative Fakten“, Pseudowissenschaften und Verschwörungstheoretiker geben sollte und warum Wahrheit nichts mit individuellen Meinungen zu tun hat.
Es sollte ein Mittwoch werden, wie eigentlich jeder andere – so dachte ich zuerst. Bereits seit mehreren Jahren werden meinesgleichen systematisch diskriminiert. Ich weiß nicht, warum ich anders sein soll. Ich sehe aus, wie die anderen. Ich lebe, wie alle anderen. Ich kleide mich, wie alle anderen. Ich gehe arbeiten, wie alle anderen. Obwohl das mit der Arbeit in den letzten Jahren auch immer etwas schwieriger wurde.
Aus Angst davor, meinesgleichen führt Böses im Schilde, lässt man mich nicht mehr wirklich arbeiten. Oder besser gesagt, man besucht mein Geschäft nicht mehr. Wir sind gebrandmarkt. „Wir“, das sind all jene, die einen Glauben vertreten – oder auch nicht. Aber zumindest haben meine Eltern diesen Glauben vertreten. Oder wenigstens deren Eltern. Jedoch sind wir schuld – so der Volksmund. Schuld an der Armut. Schuld an der Arbeitslosigkeit. Schuld an all dem Leid, dass es gerade auf der Welt gibt. Ich versteh nicht, wie ich Schuld daran haben soll. Doch sagt man sich, so würde meinesgleichen funktionieren, denn nur so erlangten wir Macht. Ich habe keine Macht.
Die Leute lassen sich aus Angst und Ohnmacht blenden. Wer einst zu meinen Freunden zählte, verachtet mich nun. Sie blicken mich nicht an. Weil ich einer von ihnen bin. Sie erzählen sich Geschichten. Anfangs waren sie noch harmlos. Heute bereiten sie mir große Sorgen.
Schon seit hunderten von Jahren kursieren solche Geschichten in der Welt. Damals noch – als Bildung nicht für jeden zugänglich war – kamen diese Geschichten noch leichter an die Leute und sie glaubten diese. Doch ich verstehe nicht, wie sie diese Geschichten heute noch glauben können. Es sind Geschichten, keine Fakten. Es sind Mythen, keine Wissenschaft. Doch die Leute glauben daran. Sie glauben daran, weil ihnen andere Erklärungen für das, was auf dieser Welt passiert, zu kompliziert sind, wie mir scheint.
Vor drei Tagen ist in Paris ein Mord passiert – von meinesgleichen. Was habe ich damit zu tun? Ich weiß es nicht. Aber es schürt die Geschichten über uns. Es scheint eine Bestätigung zu sein für unseren großen Plan. Ich habe keinen Plan. Ich möchte einfach leben. Man lässt mich nicht, weil man den Mythen glaubt, anstatt wirklich einmal hinzusehen.
Angebliche Protokolle wurden veröffentlicht. Sie wirken echt. Doch sind sie es nicht. Die Londoner Times hat sie als Fälschung entlarvt. Den Medien schenkt aber niemand Glauben, weil sie angeblich ebenso von meinesgleichen unterwandert sind. Bereits vor fünf Jahren begannen Gerichtsprozesse in der Schweiz, die die Echtheit der Protokolle sogar juristisch widerlegten. Die Leute glauben trotzdem daran. Es war bereits zu spät. Eine Ideologie wurde gepflanzt, aus der es kein Zurück mehr gibt.
Ich wurde heute Morgen festgenommen, wir schreiben den 10. November. Weil ich mitverantwortlich für diese Schandtaten, all das Leid und die große Armut sein soll. Ich weiß von nichts. Doch bin ich ihresgleichen und damit Teil des großen Plans. So steht es in den Protokollen geschrieben, die eine Fälschung sind. Dennoch wurde ich auf Basis dieser Geschichte in ein Lager gebracht, um keinen Schaden mehr anrichten zu können. Ich bin böse, doch ich habe nichts gemacht. Die Menschen hassen mich, doch bin ich nicht anders. Der Volkszorn ist gegen uns gerichtet und deshalb bringt man uns weg. Es geht um die Wiederherstellung der Ordnung, wie sie sagen.
Die Geschichte wiederholt sich
Diese fiktive Geschichte und die echten Vorfälle dahinter sind mittlerweile über 80 Jahre her. Die Novemberpogrome sollen ein Mahnmal dafür sein, was Ideologien anrichten können. „Wir haben von nichts gewusst“ – hört man oft aus dieser Generation. „Was hätten wir schon tun können?“ – wird oft gefragt. Doch sieht man sich die Entwicklungen genauer an, dann hätte es viele Punkte gegeben, an denen etwas getan werden hätte können. Es wollten zu viele daran glauben, an die „einfachen Erklärungen“, an das Feindbild, das an all dem Schuld sein sollte.
Die „Protokolle der Weisen von Zion“ spielen hierbei eine große Rolle. Der Antisemitismus wurde dadurch beinahe schon ein Muss. Die Verhetzung war erwünscht. Obwohl es als Fälschung enttarnt wurde, waren die Menschen überzeugt, von einer großen Verschwörung der Juden.
Und immer wieder antisemitische Verschwörungsideologien rauf und runter pic.twitter.com/o072pWKQ36
— Sebastian Lipp (@SebastianLipp) May 21, 2020
Was haben diese Vorkommnisse mit Verschwörungstheorien zu tun?
Sehen wir uns die aktuellen Entwicklungen an, wird deutlich, dass antisemitische Theorien sehr häufig in diesen Kreisen kursieren oder man sich zumindest eines anderen Feindbildes bedient – die Unterteilung in Gut und Böse ist maßgeblich. In die Ecke gedrängt und ringend nach Erklärungen für all das Übel, das die Welt im Moment überkommt, entstehen abstruse Theorien. Die Rothschild- Familie, die Eliten, Bill Gates, Bevölkerungsaustausch, die Weltherrschaft und viele andere Geschichten machen die Runde und finden in Zeiten der Ohnmacht mehr und mehr Anklang. So wie seinerzeit die Protokolle der Weisen von Zion.
All das scheint verständlich, bis zu einem gewissen Grad. In einer komplexen Welt wie unserer fühlt sich der Mensch schnell klein und machtlos. All der Frust, all der Zorn, der sich aus der Handlungsunfähigkeit ergibt, muss sich entladen. Erklärungen für die Dinge, die vor sich gehen, braucht es eigentlich nicht, denn es ist eine globale Katastrophe. Es ist zugleich auch eine globale Wirtschaftskrise – wie damals in den 1930ern. Der Mensch ist aber ein vernunftbegabtes Wesen und will verstehen. Er will Erklärungen. Hier gibt es aber keine einfachen Erklärungen, es gibt zum Teil sogar gar keine Erklärungen – denn Krankheiten entstehen. Und so erschafft der Mensch sich Erklärungen, um die Ohnmacht zu ertragen.
Alles schön und gut – solange sich der Hass und Zorn nicht gegen Menschen richtet. Doch mittlerweile sind wir so weit gekommen, dass denunziert wird, dass Menschen als Zielscheibe fungieren und dass Leute als dumm abgestempelt werden. Und NEIN – damit meine ich nicht die „armen“ Verschwörungstheoretiker, sondern die vermeintlich Dummen, die den Medien glauben, die die Verschwörung nicht durchschauen. So wird einer nach dem anderen abgeholt und mitgezogen.
Null Toleranz gegenüber Verschwörungstheoretikern. Warum? Sie stellen sich gerne als die Opfer dar, vor allem ihre Rädelsführer. Die politischen Parteien, von denen sie zusätzlich befeuert werden, kommen meistens aus dem rechten Eck. „Stoppt den Coronawahnsinn“ – sagt die FPÖ. Man würde sie alle mundtot machen wollen, man attackiert sie, man denunziert sie, weil sie die Wahrheit sagen. Und natürlich sind die Menschen dafür empfänglich, weil sie sich unwohl fühlen, Angst haben und die Situation nicht recht erfassen können.
Das Attackieren und das entschlossene Entgegentreten passieren jedoch vollkommen zurecht, wie ich meine. Denn die Denunziation begann nicht gegen sie! Sie nehmen gezielt Menschen ins Visier, denunzieren Politiker und Journalisten, Ärzte und Wissenschaftler; machen andere Menschen dafür verantwortlich, dass wir gerade machtlos sind. Gegen sie anzutreten, ist keine Denunziation – das ist ein Kampf gegen Unwahrheit und Euphemismen.
Erinnern wir uns an die Novemberpogrome. Erinnern wir uns an die Amerikaner und den Kommunismus, an die McCarthy- Ära und die systematische Verfolgung und Inhaftierung von vermeintlichen Kommunisten, erinnern wir uns an die Ideologien islamistischer Vereinigungen, die den Ungläubigen auszurotten versuchen, und an viele solcher Vorgänge in unserer Geschichte. Alles begann mit einer kleinen Ideologie, mit angeblichen Verschwörungen, mit alternativen Fakten, mit Unwahrheiten, mit kleinen Spinnern, die man nicht ernstnahm. Sie fanden langsam Anklang und aus Meinungen wurden scheinbare Wahrheiten.
Nein, nicht wir denunzieren Menschen, sie tun es. Wir machen auf Missstände und Ungereimtheiten in ihren Theorien aufmerksam. Wir zeigen nicht auf sie, wir zeigen auf ihre Unwahrheiten. Kritik ist wichtig, Hinterfragen ebenso, die Grundrechte gilt es zu schützen, aber nicht gegen jemanden, sondern für uns. Wer Feindbilder (miss-)braucht, dem sollte entschlossen entgegengetreten werden. Der zweite Weltkrieg begann auch mit einem kleinen Spinner, der die Ideologie und ein Feindbild auf politischer Ebene soweit etablierte, dass die meisten bei den Gräueltaten dieser Zeit wegsahen.
Es beginnt auch jetzt wieder mit wenigen. „Der Wegscheider“ auf Servus TV, Xavier Naidoo, Attila Hildmann – es scheint anfangs noch ungefährlich, wenn Menschen Fakten falsch interpretieren und darstellen. Sie nehmen Einfluss und wirken häufig seriös – auch, weil sie immer wieder betonen, man würde sie zensieren wollen und ließe sie die Wahrheit gar nicht aussprechen. Doch würde man sie zensieren wollen, dürften sie ja gar nicht erst sagen, was sie gerade von sich geben.
Sie könnten ebenso vor Gericht auf der Wahrheit beharren und versuchen, sich vor der Justiz zu beweisen – aber die ist ja auch angeblich unterwandert.
Servus TV-Chef Wegscheider hat heute 2 Artikel von mir präsentiert. Eigentlich nur deren Überschriften. Einer behandelt aktuelle Erzählungen über Bill Gates und im Anderen (12 Jahre alt) geht es um unsaubere Geschäfte der Gates Stiftung. Als Beweis einer Gates-Impf Verschwörung.
— Markus Sulzbacher (@msulzbacher) May 23, 2020
Die Vertreter gefährlicher Ideologien sind keine Opfer der Gesellschaft und der Denunziation. Sie drehen es gerne so hin. Sie tun gerne so, als wären sie die Verfolgten. Fake News – brüllen sie allen seriösen Medien entgegen. Trump, FPÖ und andere Parteien vom rechten Flügel brüllen es ebenso, was das Ganze unterstützt. Ja, ich habe Mitleid mit ihnen, weil sie das Geschehen auf unserer Welt scheinbar überfordert. Nichtsdestotrotz akzeptiere ich ihre Wahrheiten nicht. Ich toleriere sie auch nicht, sobald sie sich gegen Menschen richten. Sie dürfen die Meinung haben, aber sie nicht als absolute Wahrheit verbreiten. Das ist nicht Zensur – Hass, Faschismus, Rassismus, Sexismus, Homophobie, Antisemitismus und ähnliches sind keine Meinung!
Deshalb gibt es von meiner Seite eine Null-Toleranz und deshalb sollten sie von allen anderen auch Null-Toleranz erfahren. Wegschauen heißt zulassen. Den Mund halten heißt zustimmen. Langsam schleicht es sich ein und die Gesellschaft wird desensibilisiert. Aus anfänglichen „Spinnern“ werden schnell gefährliche Leute. Und ehe man sich versieht, ist es auf einmal doch zu spät.
Ein kleiner Beisatz
Und bricht man das Problem, dass unsere Welt heimsucht, vereinfacht runter, wäre das noch immer eine weit eingänglichere Erklärung als jegliche Verschwörungstheorien – schade, dass sie nicht darauf kommen:
Die Antwort auf vieles ist so einfach und kompliziert zugleich. Die Menschen verstehen die Mechanismen des Kapitalismus nicht. Sie verstehen nicht, dass es keine Verschwörung braucht, um Leid zu bringen. Es braucht nur ein erkranktes System, das außer Kontrolle geriet. Ein System, dass durch seine Existenz und seinen Erhalt Fairness verhindert. Dabei leidet die westliche Welt noch verhältnissmäßig wenig. Es gibt viele, die noch mehr unter diesem System leiden. Wir erhalten es sogar, wir sind Teil davon und eigentlich – führt man das Spielchen ad absurdum – sind wir Teil dieser Verschwörung, sofern man es so nennen möchte. Wir sind der Feind, unser eigener Feind.
Titelbild Credits: Shutterstock
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