Wir kennen das Problem. Wir sprechen es sogar an. Doch anstatt offen angehört zu werden, um vom Gegenüber wirklich aktiv verstanden zu werden, fällt das Bekannte: Aber was ist mit… ? Auch bekannt als Whataboutism. Eine Praktik, in der versucht wird, von der eigentlichen Diskussion abzulenken. Ob bewusst oder unbewusst. Whataboutism ist ein rhetorischer Kunstgriff, der sich immer mehr zum Mainstream wandelt und es immer schwieriger macht, sachlich zu diskutieren.
Whataboutismus – was bedeutet das?
Whataboutism ist nach der Definition des Oxford Living Dictionary „die Technik oder Praxis, auf eine Anschuldigung oder eine schwierige Frage mit einer Gegenfrage zu antworten oder ein anderes Thema aufzugreifen“. Somit bezeichnet dieser Terminus ein rhetorisches Ablenkungsmanöver, um von einem unliebsamen Gesprächs- oder Diskussionsgegenstand abzulenken. Stellt jemand eine kritische Frage, folgt augenblicklich der Konter: eine Gegenfrage bzw. ein Gegenargument. Was oft nur entfernt etwas mit der eigentlichen Frage zu tun hat.
Für die Intellektuellen unter euch ist diese Praktik auch als Tu-quoque-Argument (lateinisch tu quoque: auch du) bekannt. Es ist der argumentative Versuch, eine gegnerische Position oder These durch einen Vergleich mit dem Verhalten des Gegners zurückzuweisen und kommt insbesondere gegen moralische Bewertungen oder Vorschriften zum Einsatz. Der Ursprung liegt in Cäsars letzten Worten begründet – „Auch du, mein Sohn!“
Ziel bei diesen Taktiken und rhetorischen Kunstgriffen – auch wenn diese eher billig sind – ist es, die Kritik am eigenen Standpunkt zu ignorieren oder zu relativieren.
What about something else? Propaganda und Verschwörung
Besonders populär ist die Technik des Whatabout in der Propaganda und bei Verschwörungstheoretiker:innen. Aber auch in den sozialen Medien. Die Kommentarspalten sind, insbesondere bei kontroversen Themen, voll mit Whataboutism-en. Anstatt auf das Ursprungsargument einzugehen, geht es, wie schon erwähnt, beim Whataboutism vielmehr darum, das Gegenüber mit „Totschlagargumenten“ zu übertrumpfen, sowie die Aufmerksamkeit von einer (oft gewollten) Diskussion wegzulenken.
Der Begriff hat vor allem seit Donald Trump Präsident der USA gewesen ist und seit der Black Lives Matter-Bewegung neue Aufmerksamkeit erlangt. Und genießt mittlerweile sogar schon so etwas wie Hochkonjunktur. „Ursprünglich“ (also lange nach und nicht ganz so ursprünglich wie Cäsar) stammt diese Praktik des Whataboutism aus dem Kalten Krieg, und fand Verwendung – man erahnt es bestimmt –, um Kritiken auszuweichen. Danach war lange nichts mehr davon zu hören. Eben bis Donald Trump mit seiner „besonderen“ Art die Bühne der globalen Aufmerksamkeit betrat.
Trump verwendete Whataboutism-en zum Beispiel vermehrt, um von eigenen Fehlentscheidungen abzulenken. Hatte man ihn z.B. darauf angesprochen, dass der Rechtsextremismus eine neue Spitze erreicht hat, war seine Antwort: „Und was ist mit Linksextremismus?!“
Auch bezüglich der Black Lives Matter-Bewegung gab es immer wieder Stimmen, die die Kommentarspalten der sozialen Medien nutzen, um zu fragen, was denn eigentlich mit ihnen sei, die von anderen Formen von Ungerechtigkeit betroffen sind. Gekoppelt mit dem Vorwurf, auf sie vergessen zu haben. Insbesondere in Bezug auf Rassismus zeigt sich deutlich, wie manipulativ diese Taktik sein kann. Sie kann Aussagen massiv entwerten.
What about di**s? Männer drängeln sich mit Whataboutism vor
Der Whataboutism kann sehr inflationär gebraucht werden. Am Kinderspielplatz oder in der Politik. Bei letzterem scheint dieser jedoch leider recht häufiger Verwendung zu finden als bei Ersterem. Doch in letzter Zeit macht der Whataboutism auch vor feministischen Themen nicht halt – unter anderem entstand auch aus diesem Grund der Begriff FLINTA*. Kaum ein Frauenmord bzw. Femizid bleibt ohne Reaktion – im Sinne eines Whataboutismus –, bei dem unverbesserliche Menschen (Männer) darauf aufmerksam machen müssen, dass ja auch Männer Opfer von Gewalt sind.
Was natürlich stimmt. Ja, Männer sind Opfer von Gewalt. Sie werden sogar viel häufiger getötet als Frauen (weltweit). Im Jahr 2017 waren rund acht von zehn Opfern weltweit männlich. Das belegen Zahlen einer weltweiten Studie über Tötungsdelikte, die im Jahr 2019 vom UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) veröffentlicht wurde.
Gleichzeitig sind aber auch die Täter in den meisten Fällen männlich. Rund neun von zehn Verdächtigen bei Mordfällen waren laut anderen UNODC-Studien Männer. Was bedeutet, dass die viel häufiger getöteten Männer vor allem Opfer von männlicher Gewalt sind, wenn wir dieses Thema schon anschneiden.
"Men experience domestic violence, too." @MayraABC13 Maisha Colter: "This dynamic can exist in any type of relationship, and we help men with free legal representation. Our BIPP also helps women who abuse." @abc13 @hawctalk @HCDVCCHou
— AVDA (@AVDA_TX) November 20, 2020
Täter innerhalb von Partnerschaftsmorden hauptsächlich männlich
Betrachtet man jedoch nur die Tötungen innerhalb von Partnerschaften, ändert sich dieses Verhältnis drastisch! Hier werden in acht von zehn Fällen Frauen umgebracht. Und genau darum geht es bei den Femiziden. In mehr als der Hälfte aller Frauenmorde weltweit ist der Täter der (Ex-)Partner oder ein Familienmitglied. What about…? Verfehlt hier eindeutig das Thema.
Und noch ein weiterer interessanter und aufschlussreicher Punkt: Männer morden größtenteils, um ihre Opfer zu beherrschen und zu vernichten. Während Frauen im Gegensatz dazu hauptsächlich töten, um sich nicht weiter beherrschen zu lassen. Viele Frauen ermorden ihre Partner daher, um eine Beziehung zu beenden, in der sie Gewalt oder Erniedrigung erfahren. Schon klar, dass es auch Männer gibt, die zu Opfern von Frauen werden. Und das ist natürlich zu verurteilen. Doch das ist bei der Diskussion über die Femizide einfach nicht das Thema.
Maskulinismus
Mittlerweile konnte sich ein Maskulinismus etablieren, in dem für die Rechte von Männern eingestanden wird. Das ist jetzt nicht schlecht. Doch das Problem: oft ist dieser Maskulinismus weniger Männer-freundlich als viel mehr Feminismus- und/oder Frauen-feindlich.
Argumente gegen Feminismus sind beispielsweise, dass durch Feminismus Männer benachteiligt wären. Das eigentliche Argument, es müsse mehr für die Rechte von Frauen getan werden, entwerten Whataboutism-Fragen wie „Und was ist mit Männerrechten?“.
Dabei gerät in Vergessenheit, dass Feminismus nicht binär ist. Es geht nicht darum, dass Frauen „mehr Rechte als…“ bekommen. Vielmehr geht es darum, dass unabhängig vom Geschlecht, Alter, ethnischem Hintergrund, usw. Gleichberechtigung herrschen sollte. Also Frauen und andere Benachteiligte Menschen „genauso viele Rechte wie…“ erhalten. Und für alle dieselben Rechte gelten sollten.
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Fazit: Einfach Zuhören statt Whataboutisieren
Beim Whataboutism lenken vor allem Männer (siehe Trump) von der eigentlichen Diskussion ab, indem sie auf vermeintlich andere Missstände verweisen – wodurch Frauen diskreditiert, die Argumente jedoch nicht widerlegt werden. Berichten beispielsweise Frauen davon, dass sie am Arbeitsplatz sexuelle Belästigung erfahren, dann reagieren Männer nicht selten mit der Antwort, dass sie auch einen Mann kennen, der ebenfalls schon einmal sexuell belästigt worden war.
Weiters sind Männer ja auch Ziel von Diskriminierung und mindestens genauso stark von Sexismus und Benachteiligung betroffen wie Frauen. Somit wird vom eigentlichen Thema abgelenkt, dieses negiert und kleingeredet. Schon klar, dass es auch Frauen gibt, die auf diese rhetorischen Kniffe zurückgreifen, aber das ist jetzt nicht das Thema!
Whataboutism kommt insbesondere bei sehr heiklen Themen zur Anwendung. Er lenkt von schwerwiegenden Problemen ab, indem er auf andere Probleme aufmerksam macht. Statt zu einem Diskurs kommt es zu einem Reden aneinander vorbei. Was vollkommen unproduktiv ist. Es ist natürlich wichtig, auf Probleme aufmerksam zu machen, aber Whataboutism nimmt weder ernst, noch führt er zu einer Lösung. Weder für die eine noch für die andere Seite. Erreicht werden kann eine Lösung alleine dadurch, dass Ursprungsargumente angehört und ernst genommen werden. Und danach ist immer noch Zeit für die eigenen Probleme.
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