Das erste Highlight beginnt am Anfang des Arsenale-Areals und ist eine Metapher für Reise und Migration. Yinka Shonibare, ein renommierter britisch-nigerianischer Künstler, fordert in seiner Serie „Refugee Astronaut„, mit einem lebensgroßen nomadischen Astronauten aus „afrikanischem“ Stoff, die Vorstellung von Kultur heraus. Diese Kunstfigur soll ökologische und humanitäre Krisen bewältigen und symbolisiert die Herausforderungen der Vertreibung.

© Marco Zorzanello / Courtesy: La Biennale di Venezia
Shonibares Figur dient als Warnung vor Umweltvernachlässigung und Kapitalismus und ist unterfüttert mit kolonialen Konnotationen. Der Künstler betont, dass das Kunstwerk die potenziellen Folgen von Untätigkeit in Bezug auf steigende Wasserstände und die Vertreibung von Menschen aufzeigt und die Vielfalt der Menschheit unterstreicht.
Kunstbiennale Venedig 2024 Empfehlung: „We Were Here“ von Fred Kuwornu
Zugegeben ist es eigentlich recht unüblich bei Kunstausstellungen filmische Beiträge zu empfehlen. Doch Fred Kuwornus Dokumentarfilm „We Were Here“ (2024) ist eine Ausnahme. Der italienischer Filmemacher und Aktivist afrikanischer Abstammung begann als Politikwissenschaftler und verfolgt das Ziel, den Erfahrungen von Afro-Nachkommen in westlichen Gesellschaften Sichtbarkeit zu verleihen.
Von historischen Ereignissen — wie dem Beitrag des 92. Buffalo Soldiers-Regiments, das im Zweiten Weltkrieg in Italien kämpfte — bis zu den Mikrogeschichten von Immigranten der zweiten Generation, die sich für die Anerkennung der italienischen Staatsbürgerschaft engagieren, bis hin zur Forderung nach schwarzer Identität in der Welt der Kreativwirtschaft und Kunst.

© Matteo de Mayda / Courtesy: La Biennale di Venezia
Kuwornus Werk ist eine lange Reise, die mit „Inside Buffalo“ (2010) begann und mit „18 Ius Soli“ (2012) und „BlaxploItalian“ (2016) fortgesetzt wurde. „We Were Here“ konzentriert sich dabei auf die Kunstgeschichte und die Darstellung von Schwarzafrikanern in der europäischen visuellen Kultur seit der Renaissance. Diese Reise wird von der Stimme des Autors begleitet, dessen Präsenz darauf abzielt, eine empathische Verbindung zum Betrachteten herzustellen.
Kunstbiennale Venedig 2024: Ähs und Ähms
Einen weiteren WOW-Effekt liefert die südafrikanische Künstlerin Gabrielle Goliath. In ihren aufgezeichneten Interviews mit schwarzen, indigenen und queeren Menschen, stellt sie nämlich die Sätze auf stumm und lässt nur jene Elemente im Video, die man für gewöhnlich herausschneidet. Die „Ähs und Ähms“, sowie weitere „paralinguistische Elemente“ wie Atemzüge und Schlucke.
Diese künstlerische Geste stellt dabei die Normen der „Lesbarkeit“ und „Glaubwürdigkeit“ infrage, die normalerweise mit solchen Berichten verbunden sind. Goliaths Werk schafft somit eine „unterstützende Umgebung“ und ermutigt zu einem Raum des Verständnisses und des Mitgefühls. Indem sie die falsche Dichotomie von „Stimme“ und „Stimmlosigkeit“ problematisiert, konzentriert sie sich auf kollektive und verkörperte Formen des Zuhörens. Eine Reduktion, die uns zu einer Universalsprache führt?

© Matteo de Mayda / Courtesy: La Biennale di Venezia
Militarismus trifft auf Homoerotik
Natürlich ist auch das Phänomen Krieg bei der Kunstbiennale in Venedig 2024 vertreten. Als gelungenes Antikriegsstatement, das aber auch mit Geschlechternormen spielt, ist die Installation der mexikanischen Modedesignerin Bárbara Sánchez-Kane zu deuten.
Dafür stapelt sie grotesk überzeichnete Uniformierte in Reih und Glied übereinander. In einer dazugehörigen Liveperformance wird satirisch bloßgestellt, dass Militarismus auch immer einen gehörigen Schuss Homoerotik beinhaltet. Ein Thema, das im Grunde recht weit verbreitet ist. Wie auch der österreichische Film Eismayer zeigt.
© Marco Zorzanello / Courtesy: La Biennale di Venezia
Kunstbiennale Venedig 2024: alieneske Installation mit Tiefgang
Alle Sci-Fi-Fans werden wohl mit der Installation von Agnes Questionmark ihre wahre Freude haben. Doch wie das bei Kunst so ist, geht ihr Werk natürlich über das Genre hinaus und dringt tiefer in die Materie ein — und das wortwörtlich. „Cyber-Teratology Operation“ (2024) stellt einen trans Körper in einem Überwachungs-Operationssaal dar, der die patriarchale Biopolitik in Wissenschaft und Gesundheitswesen thematisiert und die Möglichkeiten einer Transformation ohne festgelegte Taxonomien aufzeigt.

© Andrea Avezzù / Courtesy: La Biennale di Venezia
Der deutsche Pavillon im Fokus
Der deutsche Pavillon zeigt zwei extrem unterschiedliche Werke. Einerseits hätten wir die israelische Künstlerin Yeal Bartana, die auf großen Bildschirmen ein jüdisches Raumschiff präsentiert, das von düsteren Industrial-Beats begleitet wird, während es durch den „Nazi-Pavillon“ schwebt. Ein sogenanntes „Generationen-Schiff“, das endlos durch das All reist und sogar Landschaften wie Wälder und Obstplantagen beherbergt. Für Bartana eine Suche nach Erlösung. Umsäumt von Kabbala, der jüdischen Mystik und sehr viel Hi-Tech.
Im Gegensatz dazu reduziert Ersan Mondtag seine Kunst auf Probleme der konkreten Gegenwart. Er erzählt die persönliche Geschichte seines Großvaters Hasan Aygün. Dieser kam als sogenannter Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland, um für eine Firma zu arbeiten, die aus asbesthaltigem Faserzement Dachplatten und Blumenkästen herstellte. Den deutschen Pavillon schmückte der Künstler mit Ehrenurkunden für 25 Jahre „verdienstvolle Tätigkeit“ seines Großvaters und anderen persönlichen Gegenständen. Der Großvater verstarb kurz nach der Pensionierung an den Folgen des eingeatmeten Asbeststaubs. Ein Pavillon, der wirklich unter die Haut geht.
© Matteo de Mayda / Courtesy: La Biennale di Venezia
Kunstbiennale in Venedig 2024: ein Fazit
Wie jedes Jahr hat die Kunstbiennale in Venedig auch 2024 so einiges zu bieten. Im Vergleich zu den letzten Jahren zieht sich die Grundidee diesmal jedoch klar ersichtlich durch alle Beiträge, sodass man als Besuchender ein herrliches Gefühl künstlerischer Ganzheitlichkeit erfahren darf.
Trotz der beachtlichen Bandbreite diverser Genreelemente und Grundthemen, die von ironisch bis ganz nüchtern herausgearbeitet werden, ist die Biennale 2024 geradezu wunderbar facettenreich. Spielt sie doch alle nur erdenklichen Stücke der Kunst und ist in diesem Jahr wirklich mehr als nur einen Besuch wert.