Arm oder reich scheint immer mehr zu einer überlebensnotwendigen Frage zu werden. Denn die Mittelschicht löst sich unter jahrzehntelang anhaltenden neoliberalen Trends stetig weiter auf. Ökonomen dokumentieren die Veränderungen schon seit Längerem. Dabei geht es um die gezielte Umverteilung von arm zu reich. Während der Coronakrise konnte man die reflexartige Rettung von Großkapital durch Steuergeld beobachten, während gleichzeitig viele Menschen in existenzbedrohlich prekäre Arbeitsverhältnisse abrutschen. Die darauffolgende Inflation wirkte auf diese Entwicklungen wie ein Katalysator. Dabei schlittern wir von schlimm zu schlimmer, immer mehr Richtung politische Katastrophe.
Die immer größer werdende Anzahl an Menschen, die trotz lebenslanger Tätigkeit im Alter arm sind, lässt sich dabei gut beobachten. Doch wie soll es weiter gehen? Wie bedrohlich sind die falschen Antworten, die rechtsradikale und rechtspopulistische Parteien den Menschen auf ihre Ängste liefern? All diesen Fragen geht Arte in der Dokumentation „Arm trotz Arbeit- Die Krise der Mittelschicht“ nach und lässt Betroffene sowie Expert*innen zu Wort kommen. Eins wird dabei deutlich, unsere Gesellschaft steht an einem Scheideweg. Entweder wir schaffen den Wandel oder es knallt!
Trotz Job: arm im hohen Alter
Obwohl Patricia schon fast 60 Jahre alt ist, geht die resolute Dame noch einer körperlichen Tätigkeit nach. Jedoch hier von einer Freiwilligkeit und Begeisterung zu sprechen, wäre fehl am Platz. Denn Patricia arbeitet als Leiharbeiterin in einem prekären Anstellungsverhältnis und ist trotz mehrerer Jobs arm.
Es ist gerade mal 4 Uhr morgens, wenn die 56-Jährige zu ihrer Arbeitsroutine aufbricht. Noch vor Sonnenaufgang muss Patricia Kindergruppen anfahren und diese reinigen. Patricia sagt, dass sie die Arbeit an sich nicht störe. Sie ist es gewohnt, hart zu arbeiten, das musste sie schon ihr Leben lang machen. Das größere Problem für sie sei jedoch das prekäre Anstellungsverhältnis und der fehlende Respekt durch eine faire Bezahlung.
Denn Patricia wird nur monatsweise angestellt und bekommt keine Zulagen, lediglich 9 Euro die Stunde. Die kurzen Vertragsdauern und die fehlende Sicherheit im Hinblick auf ihre Jobs lassen ihr keine Ruhe. Sie beschreibt ein Gefühl der Machtlosigkeit, wenn ihre Arbeit und ihre Tagesroutine mit einem Fingerschnippen gestrichen werden. Denn so erlebt sie es, wenn ihre Verträge nicht verlängert werden. Und auch wenn sie neben ihren Job als Reinigungskraft in Kindereinrichtungen noch etliche andere Tätigkeiten nachgeht, bleibt sie arm.
So wie Patricia geht es zahlreichen Menschen in Österreich, Europa und auf der ganzen Welt. Die Kluft zwischen den Einkommensschichten geht seit Jahrzehnten in einer sich immer stärker beschleunigenden Dynamik auseinander. Die Coronakrise hat den Effekt noch mal verdeutlich. Denn während die Anzahl der Menschen, die arm sind, immer größer wurde, wurde auch die Anzahl derer, die pervers reich sind, immer größer. Laut dem Global Wealth Report gibt es derzeit so viel Milliardäre und Superreiche wie noch nie.
Arm vs. reich: wie sozial Ungleichheiten unsere Demokratie bedrohen
Die Mittelschicht löst sich auf. Das Problem dabei ist die Tatsache, dass die Unzufriedenheit in der Gesellschaft dadurch selbstverständlich immer größer wird. Denn wenn immer mehr Menschen arm sind, machen sie richtigerweise die Politik dafür verantwortlich. Jedoch fehlt den Menschen gleichzeitig dabei auch das Klassenbewusstsein. Wussten einst Arbeiter*innen und Menschen, die arm sind, von wem sie ausgebeutet werden, grassiert heute der Fremdenhass und Verachtung der Armen als Volkskrankheiten in unserer Gesellschaft. Rechtsradikale und rechtspopulistische Parteien nähren dabei Feindbilder, ohne Lösungen anzubieten.
All das bedroht unseren Frieden und unsere Demokratie im Gesamten. Ein Potenzial, das auch Expert*innen mit der Stimmung der 30er-Jahre des vorigen Jahrhunderts vergleichen. Und so beschreibt Patricia auch selbstverständlich, wie sie den „Rassemblement National” also die französische FPÖ wählt. Denn was Flüchtlinge bekommen würden, sei unfair. Wer arm ist, ist meistens auch verzweifelt, da sind falsche Antworten besser als keine.
Für die Doku lässt Arte Betroffene wie Patricia, Expert*innen wie den britischen Ökonomen Guy Standing oder die österreichische Autorin und ehemalige Gewerkschaftlerin Veronika Bohrn Mena zu Wort kommen.
Dafür hat man sich mit Betroffenen wie Patricia vor der Coronakrise und dann noch mal drei Jahre später zu Gesprächen getroffen. Wie haben sie die Entwicklungen und Verwerfungen der letzten Jahre weggesteckt? Da die politische Unzufriedenheit und das Protestpotenzial durch die sozialen Ungleichheiten immer stärker werden, scheint sich eine Frage immer deutlicher in den Vordergrund zu drängen: Gibt es noch eine Möglichkeit, das politische Monster des Neofaschismus in den Griff zu bekommen, bevor es unsere Demokratie verschlingt?
Arm sein: auch immer mehr Menschen in Österreich betroffen
In Österreich und Europa ist die Inflation in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Im Zeitraum von 2020 bis 2022 ist die Inflation in Österreich um 1,7 Prozent gestiegen, während sie in Europa im Durchschnitt bei 2,0 Prozent lag. Die Zahlen belegen also die allgemeine Wahrnehmung. Es sind immer mehr Menschen arm. Die Coronakrise hat diese Entwicklung zusätzlich verschärft. Denn die Gewinne der reichsten stiegen während Corona deutlich an. Durch die höhere Nachfrage und somit höheren Preisen konnten auch die Profite höher steigen. Man konnte in Echtzeit beobachten, wie die Schere zwischen reich und arm nochmals weiter auseinanderdriftete.
Die steigenden Preise haben viele Menschen in Österreich und Europa in die Armut getrieben, insbesondere jene, die bereits vor der Krise am Rande des Existenzminimums lebten. Eine steigende Inflation kann zu einer Verringerung der Kaufkraft führen, was bedeutet, dass Menschen mit demselben Einkommen weniger kaufen können als zuvor.
Arm und alleingelassen mit der Inflation
Eine hohe Inflation trifft nicht nur die Konsument*innen, sondern sie kann auch die Regierungen und Unternehmen beeinträchtigen. Es kommt zu einer Verringerung der Wettbewerbsfähigkeit, der Investitionen und des Wirtschaftswachstums. Um diesen theoretischen Gefahren zu entgegnen, wurden in Österreich zahlreiche Unternehmen völlig pervers überfördert und schrieben während Corona mehr Profite als davor. Ein Schelm, wer hier Böses denkt. Ein Realist, wer versteht, dass Wirtschaftsparteien nur ihrer Klientel verpflichtet sind.
Um die Inflation zu bekämpfen, können Regierungen und Zentralbanken eine Vielzahl von Maßnahmen ergreifen, wie zum Beispiel eine Anpassung der Geldpolitik oder eine Steigerung der Produktivität. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass es keine einfachen Lösungen gibt und dass es eine komplexe Kombination von Faktoren ist, welche die Inflation im Endeffekt beeinflussen.
Bei einer Maßnahme scheint sich die österreichische Regierung jedoch einig zu sein: und zwar nichts tun! Denn für Menschen, die bedroht sind, arm zu werden oder es bereits sind, gibt es bis heute keine Hilfe. Keine Preisregulation oder eine Anpassung der Löhne und damit einhergehend eine Anpassung der Sozialleistung. Arm sein bedeutet in Österreich sowie vielerorts im Stich gelassen zu werden.
Gefahr für die Demokratie
Laut einer Studie des österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung betrug die Armutsgefährdungsquote im Jahr 2020 19,3 Prozent, was bedeutet, dass fast ein Fünftel der Bevölkerung unter den Armutsrisiken leidet. Dennoch ist arm sein weiterhin ein Stigma. Wenn man Menschen fragt, ob sie arm sind, wird das kaum eine Person öffentlich bejahen.
Dass sich das aber gerade ändert, zeigt die Arte Doku. Denn wir bekommen auch einen Einblick in selbstorganisierte Solidaritäts-Netzwerke, in denen sich Menschen versuchen, gegenseitig zu helfen.
Eine zunehmende soziale Ungleichheit trägt dazu bei, dass immer mehr Menschen von Armut bedroht sind. Dies liegt grundsätzlich an einer ungleichen Verteilung des Einkommens und des Vermögens, eine unzureichende Gesetzgebung zum Schutz der Arbeitnehmer*innen und eine mangelnde Unterstützung für diejenigen, welche am stärksten von Armut betroffen sind.
Armut und nicht Arme bekämpfen
Armut hat weitreichende und gefährliche Auswirkungen für jede*n einzelne*n, darunter fällt ein erhöhtes Risiko zu erkranken oder eine verringerte Lebenserwartung. Sie kann auch zu einer erhöhten Kriminalitätsrate, mangelnde Bildungschancen und einer Verringerung der sozialen Möglichkeiten führen. Salopp auf wienerisch gesagt: Arm sein ist nicht leiwand!
Um Armut zu bekämpfen, müssen Regierungen kontinuierliche Anstrengung unternehmen, um soziale Ungleichheiten zu reduzieren. Und nicht ablenken, indem man eine Bevölkerungsgruppe mit Neiddebatten auf andere Armutsbetroffene hetzt. Also genau das Gegenteil von dem machen, was bis jetzt passiert ist.
Dies kann durch Schaffung von Arbeitsplätzen, Ausbau des Bildungssystems, die Verbesserung der sozialen Sicherheit und die Förderung einer inklusiveren Wirtschaft erreicht werden. Wobei wir auch Grundthesen überdenken sollten, welche zu einem wirtschaftlichen System der Dauerkrisen geführt haben. Das Geld ist da, es ist nur falsch verteilt in den Händen weniger, während den anderen nichts übrig bleibt, außer arm zu sein.
Wenn wir das alles nicht in den Griff bekommen, sehen Ökonom*innen und Politikwissenschafter*innen eine äußerst düstere Zeit auf die Demokratie zukommen. Der Neofaschismus kratzt schon an unseren Türen, wir müssen aufpassen, dass wir ihn nicht aus Armut und Angst heraus freiwillig die Tore öffnen.
Titelbil © Shutterstock
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