Bankrotterklärung unseres Gesundheitssystems: Buch schildert gesundheitspolitische Tragödie
Selten jemand hat sich schon einmal wirklich Gedanken über unser Gesundheitssystem gemacht. Bernd Hontschik ist diesbezüglich die Ausnahme der Regel. In seinem neu erschienenem Buch Heile und Herrsche! offenbart er ein dystopisches Bild unserer Krankenvorsorgung. Und erklärt, wie die Medizin zu einem profitablen Geschäftsmodell geworden ist und dabei ihre Seele verloren hat.
Das Gesundheitssystem als Opfer einer zentripetalen Kapitalexpansion
Nicht nur in der Globalisierung ortet Hontschik die Wurzel des Übels. Während diese als externe bzw. „zentrifugale Expansion“ beschrieben werden kann, geschieht, zeitgleich mit der nach außen strebenden Globalisierung, auch eine interne, nach innen gerichtete, „zentripetale Expansion“.
Das bedeutet, dass auch immer mehr Bereiche der sozialen Aktivitäten innerhalb eines Landes unter die Kontrolle des Kapitals gebracht werden. Kurz zusammengefasst findet hier die Unterwerfung unter eine kapitalistische Produktionslogik statt. Diese expandiert sogar in öffentliche Bereiche, die bislang rein staatlich und somit gemeinnützig waren. Auch unser Gesundheitssystem ist in den letzten Jahrzehnten Opfer dieser neoliberalen Logik geworden.
Unsere Gesundheit als Teil des neoliberalen Wirtschaftssystems
Augenscheinlich wird diese Entwicklung anhand der Veränderung von einem Solidaritätsprinzip zu einem Schuldprinzip. Das Solidaritätsprinzip besagt, dass sich die Höhe des Beitrags, der steuerlich für das Gesundheitssystem zu entrichten ist, nach dem persönlichen Einkommen bemessen wird. Wer mehr verdient, zahlt mehr ein.
Das individuelle Krankheitsrisiko spielt dabei keine Rolle. Die Krankenrisiken werden von allen Versicherten gemeinsam – solidarisch – getragen. Es ist daher ohne Bedeutung, wodurch und warum es zu Krankheiten kommt. Ein Eigenverschulden ändert nichts am Beitrag. Dieses Solidaritätsprinzip gilt genauso für die Arbeitslosenversicherung und unser Pensionssystem. Jede:r zahlt für alle ein und nicht nur für sich selbst.
Vor fünfzehn Jahren wurde im Laufe einer der unzähligen Gesundheitsreformen (in Deutschland) jedoch eine neue Kategorie eingeführt. Für „selbst verschuldete“ Behandlungskosten tritt die Geltung des Solidaritätsprinzips somit nicht mehr in Kraft und der oder die Kranke muss die Kosten selbst tragen. Eine klare Grenze zwischen dem, wann man selbst schuld ist und wann nicht, ist laut Hontschik jedoch nicht klar zu ziehen. Willkommen also im Schuldprinzip, dem „Totengräber des Solidaritätsprinzips“, wie Hontschik anmerkt.
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Liegezeit vs. Fallzahl – die Entscheidung im Gesundheitswesen ist gefallen
Es dürfte wohl jedem klar sein, was das u.a. bedeutet. Und zwar hat das ehemals Soziale angefangen, wirtschaftlich zu denken. Am besten ist das an der neuen Krankenhauspolitik zu erkennen. Lange Zeit war die Liegezeit ausschlaggebend dafür, wie viel Geld ein Krankenhaus erhält.
Bedeutet: Ein Krankenhaus bekommt Geld pro besetztem Bett. Mittlerweile gilt aber die sogenannte Fallpauschale. Krankenhäuser werden nun nach der Zahl und Schwere der zu behandelnden Fälle bezahlt. Diese Veränderungen können durchaus als dramatisch bezeichnet werden.
Wenn man nämlich nach Fallzahl bezahlt wird, muss man natürlich (will man mehr Geld erwirtschaften) die Zahl der behandelten Patienten und Patientinnen erhöhen. Das geht aber nur, wenn man die Liegezeit radikal senkt. Heißt: Die Menschen halten sich immer kürzer im Krankenhaus auf und werden daher immer schneller und kürzer behandelt. Und wenn die Bezahlung dann auch noch von der Schwere der Diagnosen abhängig ist, muss man die Diagnosen auch als so schwerwiegend wie möglich deklarieren. Auch, wenn sie es gar nicht sind. Dass dieser Ansatz schamlos ausgenutzt wird, hat das Phänomen Upcoding leider sehr gut bewiesen. Ergebnis: „Aus dem Gesundheitswesen wird die Gesundheitswirtschaft.“, so Hontschik.
Gesundheitssystem als neoliberale Spielweise der Gier
Bestes Beispiel für diese Wirtschaftslogik des Gesundheitssystems sieht Hontschik in der Pharmaindustrie. Denn es „gibt kein Verbrechen, dessen sich die Pharmaindustrie noch nicht schuldig gemacht hat. Manipulation oder Unterdrückung von Studiendaten, gekaufte Wissenschaftler, Erpressung, Verleumdung und Menschenversuche mit katastrophalem Ausgang – alles ist längst bekannt.“
Rezeptfreies Schmerzmittel sorgt für über 60.000 Drogentote im Jahr
So konnten die PricewaterhouseCoopers AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg herausfinden, dass zwei Drittel aller Pharmafirmen von Wirtschaftskriminalität betroffen sind. Und an Beispielen dafür fehlt es Hontschiks Buch natürlich auch nicht. Eine nie enden wollende Anzahl an Skandalen zählt er darin auf. Allem voran das Schmerzmittel Oxycodon – eines den umsatzstärksten Arzneimitteln der Welt.
Problem dabei ist vor allem dessen extrem hohes Suchtpotenzial. Mithilfe williger US-Politiker hat es die Pharmaindustrie jedoch geschafft, dass Oxycodon rezeptfrei zu kaufen ist. Vor allem diese freie Verkäuflichkeit gilt als Hauptgrund für die gegenwärtig schlimmste Drogenkrise in der Geschichte der USA. Die über 60.000 Drogentoten jedes Jahr sind fast alle aufgrund dieser und ähnlicher Opiate in die Abhängigkeit gerutscht.
Fazit oder Grabgesang auf das Gesundheitssystem
Hontschiks Buch Heile und Herrsche! ist eine minutiöse Studie über die traurige Entwicklung des Gesundheitswesens. Geradezu dokumentarfilmhaft zeigt er uns, was passiert, wenn man anfängt, vor allem vom Solidaritätsprinzip gestützte Bereiche, rein wirtschaftlich zu denken. Und beweist einmal mehr, dass sich die Medizin niemals als profitorientiertes Instrument missbrauchen lassen darf. Sie hat allein dem (erkrankten) Menschen zu dienen und sonst niemandem.
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