Wie die Apple Produkte der I-Phone-Serie jedes Jahr immer wieder rechtzeitig die nächste Dimension erreichen, konstant eine Portion Innovation drauflegen und immer „extremer“ werden, so verschiebt sich auch die Grenze des menschlichen Sexual-Verhaltens stetig nach vorne und wird ebenfalls immer extremer. Therapeutinnen und Therapeuten sehen darin jedoch nur wenig Innovation und zeigen sich sehr besorgt, anhand dieser Entwicklung. Diagnose: Pornosucht. Mit fatalem Einfluss auf eine gesunde Sexualität.
Alles Porno!
Die Zahlen sind erschreckend. In Nordamerika – die USA sind Porno-Spitzenreiter – liegt das durchschnittliche Einstiegsalter in den Pornokonsum bei elf Jahren (!). Wir wiederholen: 11 Jahre. Und das ist der Durchschnitt! 92 Prozent der Jungen und 63 Prozent der Mädchen konsumieren in the great US Porno in der Jugendzeit. 46 Prozent der grown up boys sind später noch regelmäßig dabei. In Spanien z.B. nutzen 46 Prozent der Jungen zwischen 14 und 17 Jahren regelmäßig pornografisches Material.
In Deutschland sehen die Kids das erste Mal harte Pornos im Durchschnittsalter von 12,7 Jahren. Der Ort des Geschehens ist zum Großteil das eigene zu Hause. Eingestiegen wird hauptsächlich über Computer und Smartphone. Bei jedem Zweiten war der Erstkontakt laut einer Studie gewollt. Doch gibt es auch hier wieder die typischen Geschlechterdifferenzen.
Mehr männliche als weibliche Teenager berichten, dass der Erstkontakt gewollt war. 28 Prozent der 14 bis 17-jährigen deutschen Jugendlichen fangen zwischen zehn und zwölf Jahren an, sich Porno-Filme anzusehen. Deutschland by the way ist Nummer sieben, was den weltweiten Pornokonsum anbelangt. Hinter USA (1), Großbritannien (2), Indien (3), Japan (4), Kanada (5) und Frankreich (6).
Die Binge-Watcher der Generation Z
Stark von diesem exzessiven Pornokonsum betroffen sind junge Menschen. Vor allem die Generation Z, also all jene, die nach dem Jahr 2000 geboren wurden. Bei dieser liegen vor allem Livesex-Angebote vor der Webcam im Trend. Das Web-Portal „Stripchat“ berichtet, dass diese Generation auch bereit ist, Geld für ihren Konsum auszugeben. Fast 8 Prozent der unter 24-jährigen hatten in einer dementsprechenden Umfrage angegeben, bis zu 1000 Euro im Monat dafür auszugeben. Da stellt sich schon die Suchtfrage.
Das Ansehen von Pornos ist logischer Weise nicht so unschuldig wie angenommen. Denn lange schon ist klar: der exzessive Konsum führt zu einer aktiven Veränderung des Verhaltens. Das weiß vor allem Heike Melzer, Fachärztin für Neurologie mit den Schwerpunkten Paar- und Sexualtherapie in München.
„Die sexuellen Reize werden immer stärker und können im Übermaß konsumiert werden. Was wir uns anschauen, verändert zudem unsere sexuellen Fantasien. Heute ist das, was früher Hardcore war, Blümchensex. Voyeurismus, Fetischismus, Exhibitionismus – das ist mittlerweile Kulturgut. Wer ist nicht Voyeur im Zeitalter von Instagram oder Pornhub?“ Die Pornosucht, die sich daraus entwickeln kann, ist somit nur eine aus diesem verhalten logisch ableitbare Folgeerscheinung.
Diagnose: Pornosucht
Das Erschreckende. Immer mehr dieser jungen Menschen sind regelrecht süchtig nach Pornos aus dem Internet. Diagnose: Pornosucht. Ein Problem mit einer großen gesellschaftlichen Relevanz. Das sich aufgrund der Coronapandemie und der Verringerung der Freizeitmöglichkeiten noch einmal intensiviert hat.
Schätzungen zufolge leben allein in Deutschland um die 500.000 Menschen, die unter Pornosucht leiden. Eine Schätzung die verwundert, da sich diese Zahl seit 2005 nicht verändert zu haben scheint. Somit ist es wahrscheinlicher, dass die wirkliche Zahl viel höher ist. In den USA liegt die Zahl zwischen fünf und acht Prozent. Der Männeranteil bei diesen Zahlen macht laut dem Suchtexperten Michael Musalek, langjähriger Ärztlicher Direktor des Anton-Proksch-Instituts in Wien, 75 Prozent aus.
Exzessiver Konsum nicht als Sucht anerkannt
Das Problem bei diesen Zahlen bleibt, wie hoch auch immer sie sein mögen, dass dieser Konsum offiziell immer noch nicht als Sucht anerkannt wird. Zwar gilt ein zwanghaftes Sexualverhalten – zu dem u. a. auch der übermäßige Pornokonsum zählt – laut WHO seit 2019 als psychische Krankheit. ExpertInnen sprechen diesbezüglich schon von einem „Meilenstein“. Doch die offizielle Anerkennung dieses exzessiven Konsums als Pornosucht fehlt immer noch.
Dabei hat, laut Musalek, gerade der Pornokonsum „ein hohes Suchtpotenzial“. Und ist sogar eher vergleichbar mit Heroin als mit Alkohol. Eine Ansage. „Der entscheidende Punkt ist der sogenannte Kick“, so dieser weiter. Andere sprechen vom Porno sogar als einer Art „sexuellen Superdroge“. Das große Problem dabei ist vor allem die „Entkopplung von Zwischenmenschlichkeit und Sexualität.“ Der Sexualpartner bzw. die Sexualpartnerin wird dabei praktisch nur als bloße Masturbationshilfe „missbraucht“ und menschlich zweckentfremdet.
Vor allem junge Menschen, die zu früh und zu exzessiv mit solchen Porno-Bildern konfrontiert wurden, leiden unter dem Problem Pornosucht. Resultat: Sie kommen mit der Sexualität in der analogen Welt überhaupt nicht mehr klar. Daher leiden viele unter Orgasmusstörungen und greifen auf Viagra zurück.
Ein Leid, das vor allem der Pharmaindustrie in die Karten spielt. Eine Entwicklung, die Heike Melzer, Fachärztin für Neurologie mit den Schwerpunkten Paar- und Sexualtherapie in München, nüchtern auf den Punkt bringt. „Die Pornoindustrie arbeitet mit der Pharmaindustrie Hand in Hand.“
Pornosucht und der Umgang mit der Realität
Verkümmerung der Phantasie. Das war schon Ende der 1980er Jahre die Diagnose des französischen Philosophen und Kritikers der Mediengesellschaft Paul Virilio: „Seit langem haben die jüngeren Generationen Schwierigkeiten zu verstehen, was sie lesen, weil sie nicht in der Lage sind, sich das Gelesene vor-zustellen, sagen die Lehrer… Für sie haben die Worte aufgehört, Bilder hervorzurufen, weil die immer schneller wahrgenommenen Bilder die Worte ersetzen“.1
Und bei exzessivem Konsum von Pornos ersetzen Bilder ein genuines Einlassen auf einen anderen Menschen. Anstatt dem oder der Anderen wie einem wirklichen Menschen zu begegnen, wird diese*r nur noch als ein Bild konsumiert. Und wie schon erwähnt, als eine Masturbationshilfe missbraucht. Mag sein, dass die Menschen immer schon Sex in Form von Bildern konsumiert haben. Doch damals haben die Jugendlichen sich bewusst auf diese Bilder eingelassen. Heute werden die Kinder (unbewusst) davon überrollt.
Und obwohl es eine Tatsache ist, dass unsere Gesellschaft von sexualisierten Darstellungen durchdrungen ist, gelten Pornos erstaunlicher Weise immer noch als großes Tabu. Sex (als ästhetisch verzerrtes Bild) ist überall. In der Werbung, in den Musikvideos usw. und dennoch findet ein seriöses Gespräch darüber (in Form der Aufklärung) nicht statt. Man mag es kaum glauben, doch Sex selbst ist im Allgemeinen immer noch ein Thema, über das zu wenig gesprochen wird.
Pornos – ein Konsum am Leben vorbei
„Pornokonsum verändert die Persönlichkeit… Man geht am Leben vorbei“, weiß z.B. auch Silvan, ein genesener Pornosüchtiger. „Die Pornos stehen so einfach zur Verfügung. Ich habe mich hineingeflüchtet und gar nicht gemerkt, was ich verpassen könnte. Es ging mir lange Zeit gut dabei.“ Doch er hat etwas verpasst. Etwas Wichtiges. Das Leben. Das real life.
Erst als seine Freunde Silvan von deren realen Frauenbekanntschaften erzählten, habe er begriffen, was bei ihm nicht richtig lief. Er hielt seine Pornosucht natürlich geheim. Jetzt muss der gutaussehende Silvan erst lernen, wie man lockere Gespräche führt, aber auch flirtet. Aufgrund des Pornokonsums sei er total blockiert gewesen im Umgang mit Frauen. Es erschien ihm nahezu unmöglich mit dem anderen Geschlecht in Kontakt zu treten.
Leistungsdruck – performen wie ein Pro
Neben der Hauptgefahr Pornosucht birgt ein exzessiver Pornokonsum aber noch ein anderes Risiko. Leistungsdruck. Viele meinen mit der Performancekunst der Pornos mithalten zu müssen. Was die Konsumierenden dabei oft vergessen. Die Darstellenden werden von Profis gemimt und die „Story“ von einem ganzen Filmteam im Hintergrund umgesetzt. Mit Pausen, Szenewechsel usw. Was man beim unreflektierten Konsum oft vergisst.
Vor allem wird auch nicht wirklich darüber berichtet, wie viele Mittel so ein männlicher Darsteller einwerfen muss, um seine prächtige Erektionen so lange anhalten lassen zu können. Alle diese Hilfsmittel verursachen auf lange Zeit aber vor allem eins: Erektionsprobleme. Und sie lassen oft einen zerstörten Penis zurück. Das Problem: vor allem junge und gesunde Männer werfen sich Viagra ein, um genauso wie ein Darsteller zu funktionieren.
Doch das Verlangen danach liegt nicht ausschließlich in der männlichen Omnipotenz-Fantasie begründet. Auch Frauen tragen bei diesen Optimierungswünschen der Männer oft eine Mitverantwortung. Vor allem, wenn die natürlichen Fähigkeiten eines Penis den Erwartungen so gar nicht entsprechen können.
So hat der Schauspieler Ashton Kutcher Viagra eingenommen, um vor allem den Ansprüchen seiner damaligen Partnerin Demi Moore gerecht zu werden. Solche „rolemodels“ sind natürlich alles andere als Hilfreich in der Entwicklung einer gesunden Sexualität.
Pornografie verändert Beziehungen
Das Problem ist nicht nur der Konsum allein. Pornografie verändert die Grundstruktur menschlicher Beziehungen. Vor allem die Beziehungsfähigkeit. Pornokonsum verändert die natürliche Vorstellung über Frauen, Männer und Sexualität. Er verändert sogar die Anschauung der Liebe. Hauptgrund für das Scheitern jeder vierten Ehe in den USA ist der Konsum von Pornografie. Beim Scheitern der anderen 75 Prozent der Ehen spielt Pornografie ebenfalls eine wichtige Rolle.
Exzessiver Pornokonsum kann auch bei jungen Männern zu Impotenz führen. Und nicht nur das. Auch die Hirnstrukturen verändern sich durchs Porno-watching gravierend. Dies belegen Forschungen des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Bei Vielkonsumenten von Pornografie verkleinert sich der sogenannte Schweifkern (nucleus caudatus), zuständig für die Wahrnehmung von Belohnungen und für die Motivation. Das macht nicht nur anfällig für Sexsucht, sondern auch für Alkoholismus und Depressionen.
Pornos prägen Sexualverhalten: Pornosucht macht echten Sex unmöglich
Es ist klar: „Pornos prägen auf jeden Fall das Sexualverhalten“, meint auch die Basler Sexualpädagogin und Philosophin Dominique Zimmermann. Doch „die Sexualität wird eher verdorben als aufgewertet.“, erklärt diese weiter. Vor allem Mädchen haben es nicht leicht, angesichts dieser alles umgebenden Pornoästhetik, ihre eigene Persönlichkeit gegen das stupide Rollenbild der immer-willigen Frau mit perfect-body durchzusetzen. Für Jungen, sich gegen das Bild des auftrainierten Dildo-Körper mit Langzeit-Erektion zu behaupten, ist mit Sicherheit genauso schwierig.
Schon vor dem Lockdown-Dilemma, mit seiner sozialen Isolation und der Konzentration auf das Digitale, war der Pornokonsum ein brennendes Thema. Auch der Präsident des Österreichischen Bundesverbandes für Psychotherapie, Peter Stippl, spricht in Bezug auf das Phänomen Internetpornografie von „grauenhaften Auswüchsen“. „Ganze Existenzen werden so gefährdet“, so Stippl. „Es ist notwendig, dass man darauf gesellschaftlich und politisch reagiert.“, sein Appell. Man darf gespannt sein wie und vor allem wann aus der Ecke der Politik diesbezüglich etwas kommen wird.
Was radikaler Pornoentzug mit eurem Sexleben machen kannn, lest ihr unserem Erfahrungsbericht. Warum feministische Alternativen ebenso einen vielseitigen poitiven Effekt haben, könnnt ihr in unserem Beitrag hier lesen.
Titelbild Credits: Shutterstock
1Virilio, Paul (1989): Die Sehmaschine. Berlin: Merve Verlag, Seite 29.
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